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Grünen-Chefin Annalena Baerbock und Robert Habeck beim letzten nicht-virtuellen Parteitag in Bielefeld

© IAFP

Parteitage im Netz: Coronavirus-Krise zwingt Parteien zu Experimenten

Abstimmungen übers Internet, Reden aus dem Wohnzimmer: Können virtuelle Parteitage reale Versammlungen ersetzen?

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Manchmal kommt die Zukunft schneller über einen als gedacht. Als sich die CSU bei ihrem vorerst letzten echten Parteitag in die Satzung einen „virtuellen Parteitag oder Parteiausschuss“ schrieb, war das vor allem als Symbol gemeint. Dass sich die Delegierten in wenigen Monaten wirklich mit der Lederhose vor den Laptop setzen müssten, ahnte niemand. An diesem Samstag probieren die Grünen als erste Partei, wie sich trotz Coronavirus-Beschränkungen ein Parteitag im Internet abhalten lässt. Wenn die CSU am 22. Mai nachzieht, kann sie von den Erfahrungen lernen.

Grünen-Bundesgeschäftsführer Michael Kellner nennt es ein „demokratisches Experiment“. Die rund 100 Delegierten des Länderrats, eines Kleinen Parteitags zwischen den regulären großen, kommen nicht in einer Halle zusammen, sondern werden per Video zusammengeschaltet. Redner reden in Kameras hinein – aus dem heimischen Wohnzimmer.

Ansonsten soll aber alles mehr oder weniger ablaufen wie gewohnt. Es gibt von der Parteitagsregie gesetzte Redebeiträge, andere Auftritte werden gelost. Am Ende wird über einen Antrag des Parteivorstands abgestimmt, der einen Weg aus der Coronavirus-Krise skizziert. Schon seit Tagen können Parteimitglieder Änderungsanträge im Netz stellen. Abgestimmt wird über eine eigene Software, zu der nur Delegierte Zugang erhalten.

Parteimanager Kellner ist noch nachträglich froh, dass er in den vergangenen Jahren einen Teil der zusätzlichen Beitragseinnahmen bereits in Digitalisierung investiert hat. Die App, über die sich die Basis an der Parteiarbeit beteiligen kann, ist seit einer Weile fertig. Und auch mit Veranstaltungen übers Internet hat die Partei schon Erfahrungen gesammelt.

Bisher gab es nur wenige virtuelle Parteitage

Doch bisher war die Neigung der Parteien – mit Ausnahme der Piraten in Brandenburg – nicht groß, reale Parteitage durch virtuelle zu ersetzen. Erste Erfahrungen verliefen ja auch ernüchternd. Im Jahr 2000 hielt die CDU über mehrere Tage einen Netz-Parteitag ab, im gleichen Jahr versuchten es die Grünen in Baden-Württemberg. Die SPD experimentierte mit virtuellen Ortsvereinen, CDU und FDP hatten „Mitgliedernetze“.

Doch das Internet befand sich da noch im virtuellen Dampfzeitalter. An Livestreams war bei dem gut dokumentierten Grünen-Versuch in Baden-Württemberg nicht zu denken. Debatten wurden über fast zwei Wochen schriftlich geführt. Die Delegierten loggten sich täglich ein, das Parteipräsidium schaltete sich moderierend zu, zu festen Zeitpunkten wurde online über Anträge abgestimmt.

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Die Führung erwartete sich von dem neuen Format eine möglichst rege Basisbeteiligung, sagt Till Westermayer, der den Parteitag für seine Magisterarbeit ausgewertet hat. „Doch diese Hoffnung hat sich nicht bewahrheitet.“ 7500 Mitglieder hatte der Landesverband damals. 163 nahmen teil, schrieben Redebeiträge oder unterstützten Anträge.

Allerdings geschah, was in vielen Internet-Foren passiert: Intensiv diskutierte nur ein ganz kleiner Kreis von 14 Delegierten mit; sie allein bestritten gut die Hälfte der Beiträge. Vom jetzigen Parteitag erwarte er sich dann doch „mehr Event“ als vor 20 Jahren, sagt Westermayer, der die Veranstaltung im Stream verfolgen wird.

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Aber wie viel „Event“ und vor allem: Wie viel von der Lebendigkeit und Atmosphäre der Delegiertentreffen schafft es bis ins Internet? Marina Weisband, Ex- Bundesgeschäftsführerin der Piratenpartei und heute bei den Grünen, sucht nach Lösungen dafür. Sie entwickelt digitale Systeme, die demokratische Beteiligung ohne Präsenz ermöglichen. „Wir alle stehen jetzt vor der Herausforderung, dass es weitergehen muss – auch mit der Demokratie“, sagt sie.

Im parallelen Chat können Delegierte quatschen

Zwei Voraussetzungen müssten erfüllt sein, um Parteiveranstaltungen online abzuhalten: Die Teilnehmer sollten sich gegenseitig mitbekommen, also über Video zu sehen sein, und sie sollten sich auch in kleineren Kreisen austauschen können, etwa über einen parallelen Chat. „Auf Parteitagen quatscht man ja auch mit seinen Sitznachbarn“, sagt Weisband. Dann könne durchaus die „politische Energie“ entstehen, die einen Parteitag ausmache.

Ohne Gewöhnung, Übung und Versuch und Irrtum wird das nicht abgehen. „Falls doch etwas schiefgeht – also zum Beispiel der Videostream zusammenbricht oder es einen Satzungsverstoß gibt –, wünsche ich mir, dass nicht alle mit dem Finger darauf zeigen“, hofft Weisband.

Alles steht und fällt mit der Technik

Alles stehe und falle mit der Technik: „Ich habe an tollen digitalen Veranstaltungen teilgenommen, während derer ich mich gefragt habe, warum ich eigentlich früher quer durch Deutschland gereist bin. Und an welchen, die eine Stunde vorher abgebrochen wurden, weil es mit der Technik einfach nicht geklappt hat“, erzählt Weisband. Doch die Gefahr, sich zu blamieren, müsse man in Kauf nehmen: „Würden demokratische Institutionen Innovationen scheuen, weil sie Risiken bergen, wird Demokratie dem Zeitgeschehen nicht folgen können.“

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Auch Moritz Ritter, Mitglied der Geschäftsführung des Digital-Vereins Liquid Democracy, sieht in der jetzigen Zwangslage Chancen: „Es gibt jetzt einen Veränderungsdruck, den es ohne Corona nicht gegeben hätte.“ Jetzt zwinge „die reine Not“ Institutionen dazu, sich Experimenten zu öffnen.

Speziell Parteitage findet Ritter im Netz gut aufgehoben. Die Abläufe seien ohnehin stark formalisiert, deshalb könne das Format gut ins Digitale übersetzt werden: „Ich glaube nicht, dass das Digitale in diesem Fall viel anonymer ist.“ 

Außerdem müsse ja nicht alles, was auf einem Parteitag stattfinde, in Echtzeit passieren. „Welche Diskussionen könnte ich zum Beispiel über den Parteitag hinaus führen?“ fragt er. Auch würden politische Entscheidungen nachvollziehbarer: „Wenn Institutionen anfangen digital zu agieren, werden sie transparenter für Menschen, die nicht an allen Teilen des Prozesses teilhaben können.“

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Erfahrene Parteitagsgänger betrachten solche Hoffnungen freilich mit einem Gutteil Skepsis. Als Zusatzformat sei der virtuelle Parteitag nicht schlecht, sagen Verantwortliche der Volksparteien. Er ist rasch einberufen, etwa um über einen Koalitionsvertrag zu befinden, und billiger als millionenteure Hallen-Events.

Das Parteiengesetz setzt virtuellen Parteitagen Grenzen

Aber die Spannung, die Stimmung, den Klassentreffen-Charakter, auch das gelegentlich Anarchische des realen Parteitags ersetzen kann die Videokonferenz nicht. Für die ganz harten Fragen – Wahlen, Satzungsänderungen – verlangt ohnehin das Parteiengesetz den realen Delegierten im Saal. Nächste Woche wollen die Generalsekretäre der Parteien wenigstens schon mal beraten, wie sie ab Juni ihre Kandidaten für die nächste Bundestagswahl aufstellen können.

Der große Test kommt im Winter. Bei der CDU gehen alle davon aus, dass der nächste Chef erst beim regulären Parteitag im Dezember gewählt wird. Vorsorglich denken sie im Adenauer-Haus über coronaverträgliche Formate nach – Delegierte auf Abstand, Gäste in eine Nebenhalle, Journalisten abschirmen.

Eine virtuelle Vorsitzenden-Wahl will aber niemand, selbst wenn sie bis dahin rechtlich möglich gemacht würde. „Ein Rededuell auf Smartphone-Schirmen will ich mir nicht wirklich ausmalen“, sagt ein Vorständler. Gerade gute Redner leben vom Kontakt mit dem Publikum. Die Vorstellung, dass statt Applaus vermutlich nachher Likes gezählt werden müssten, klingt eher gruselig.

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