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Über 100 Kilometer Akten der DDR-Geheimpolizei.

© Fabrizio Bensch, Reuters

Das Erbe der Stasi – eine permanente Reifeprüfung: Vergangenheit lässt sich nicht zerreißen

Vor 30 Jahren wurde die Stasi-Zentrale von mutigen Ostdeutschen gestürmt. Die Öffnung der Akten ist eines der Wendewunder. Ein Kommentar

Ein Kommentar von Robert Ide

Es ist bis heute eine weltweite Einmaligkeit. Und eines der unterschätztesten Vermächtnisse der deutschen Einheit – verbuddelt im kollektiven Gedächtnis, aber noch immer verfügbar: das Erbe der Stasi. Vor 30 Jahren stürmten mutige Ostdeutsche nach der Mauer auch die Geheimpolizei, die sie mithilfe zehntausender Helfer drangsaliert hatte.

Die Besetzung der Überwachungszentrale in Berlin-Lichtenberg am 15. Januar 1990 konnte zwar nicht verhindern, dass im letzten Moment doch noch viele sensible Dokumente geschreddert wurden. Aber sichtbar wurde vor aller Augen: Vergangenheit lässt sich nicht einfach zerreißen. Man muss sich ihr offen stellen, wenn sie einen nicht zerreißen soll.

Die Unterlagen – 111 Regalkilometer lang – dokumentieren Unterdrückung und Widerstand. Sie zeigen, dass Täter auch gleichzeitig Opfer sein konnten. Und dass jede kleine Information von Spitzeln einen großen, zum Teil dauerhaften Schaden bei Bedrängten anrichten konnte. Die Akten stehen den Menschen offen: als Tür zur eigenen Geschichte. Viele trauen sich noch immer nicht durch sie hindurch. Weil die Konfrontation mit alten Konflikten in der Familie und im Freundeskreis viel Mut erfordert. Und oft dunkle Dinge ans Licht bringt, die viele lieber nicht so genau wissen wollen.

Erinnerung ist nicht Asche, sondern Glut, sagt Bürgerrechtlerin Marianne Birthler, selbst lange Stasi-Akten-Beauftragte. Der heutige Umgang mit der massenhaften Bespitzelung und ihren Opfern bleibt für alle eine permanente Reifeprüfung. Jüngere und Westdeutsche, die den Zwängen der DDR-Diktatur nicht ausgesetzt waren, sollten sich zumindest selbstkritisch fragen: Was hätte ich damals getan? Auch das ist ein Wert der Akten: Das Wissen fordert das Gewissen.

Die Stimme der Opfer ist zu leise geblieben

Was bleibt von der DDR heute – außer ein Gewühl an unverstandenen ostdeutschen Gefühlen? Nach dem glanzvollen Mauerfall-Jubiläum rückt nun die Betrachtung des Einheitsjahrs 1990 in den Fokus öffentlicher Selbstbefragung. Dabei wird es um Fehler der Einheit gehen und was aus ihnen für neue Umbrüche zu lernen ist – um harte Betriebsabwicklungen, um verschwundenes Volks- und Parteivermögen; darum, dass immer auch Heimat verloren geht in rasend schnellen Transformationen.

Die Stasi-Akten gehörten (neben einer liberaleren Fristenregelung für Frauen bei einem Schwangerschaftsabbruch sowie Ampel- und Sandmännchen) zum wenigen, was vom alten Osten übrig blieb. Die Bonner Bundesregierung wollte die toxischen Unterlagen, die auch die Westbeziehungen der Stasi aufzeigen, am liebsten für immer wegschließen; erst Besetzungen und Hungerstreiks von Bürgerrechtlern bewahrten das eroberte Erbe.

Zukunft ohne offenen Umgang mit Makeln ist schwer zu gestalten

Die Verwaltung und Öffnung der Akten durch eine eigens geschaffene Behörde ist eines der Wendewunder. Nirgendwo sonst in der Welt wurde die Geheimpolizei eines Landes friedlich stillgelegt. Die Stimme der Opfer ist dabei allerdings zu leise geblieben.

Sieben Millionen Anträge auf Akteneinsicht bis heute zeigen, wie wichtig vielen Bürgern das einst geheime Wissen der Macht über sie ist. Wegen schmerzhafter Stasi-Debatten um öffentliche Amtsträger (die zuweilen davon ablenkten, dass Befehlsgeber der Stasi die Staatspartei SED war) haben es viele nicht vermocht, auf diese Errungenschaft der Revolution stolz zu sein.

Stasi – das Etikett haftete lange wie ein Makel an der ostdeutschen Gegenwartsgesellschaft. Doch eine Zukunft ohne offenen Umgang mit Makeln ist schwer zu gestalten. Obwohl drei Jahrzehnte vergangen sind und 1990 so weit weg ist wie 2050: Spuren des früheren Lebens lassen sich nicht tilgen aus einer Stadt, einem Land, aus den Menschen.

In den Stasi-Akten stecken unangenehme Wahrheiten über Menschen und manch geheimdienstliche Unwahrheit. In ihrer Sicherung – bald für immer im Bundesarchiv – steckt etwas dauerhaft Wichtiges: der Wille, wissen zu wollen und zu dürfen, was andere über einen wissen. Freiheit definiert sich auch heute so: Meine Daten gehören mir.

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