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Politik: Das Gefühl für Freiheit

DIE EU UND DIE TÜRKEI

Von Bernd Ulrich

Wer würde sich mehr freuen über den Beitritt der Türkei zur EU als die Deutschen mit ihren zwei Millionen türkischen Mitbürgern? Das wäre eine echte Vision: eine Türkei, in der das Individuum genauso viel zählt wie in Belgien oder Österreich, ein Staat, bei dem die Rechte nicht nur auf dem Papier stehen, mit einem Militär, das sich nicht als eigentlicher Souverän ansieht, mit Gerichten, vor denen der Buchstabe des Gesetzes gilt, nicht der Rang eines Angeklagten, einer Bürokratie, bei der die Bürger nicht nach der Höhe ihres Schmiergeldes behandelt werden, ein Land, das weder von der Religion beherrscht wird noch sie unterdrückt, mit Familien, in denen die Töchter heiraten und nicht verheiratet werden. Ja, das wäre schön, wenn man eine solche Türkei in der EU hätte.

Leider gibt es eine solche Türkei nicht, und man kann allenfalls darüber streiten, wie viele Jahrzehnte das Land noch braucht, um dahin zu kommen – kaum aber darüber, dass es sich noch um Jahrzehnte handelt. Wer jetzt die Türken mit Daten für den Beitrittsprozess lockt und einen Automatismus in Gang setzt, der lässt sich von Vorurteilen leiten. Wohlmeinenden Vorurteilen gegenüber der Türkei, von der man hofft, es werde schon alles gut, nachdem bereits die Todesstrafe abgeschafft wurde – und wenn vielleicht demnächst das Foltern aufhört, wenn ordentlich gewählt wird sowie Staat und Religion getrennt bleiben.

Und er erliegt einem Vorurteil gegenüber der eigenen, europäischen Kultur. Das geht so: Die demokratischen Staaten Europas haben es geschafft, die Religion zur Privatsache zu machen und können deswegen auch eine moslemische Gesellschaft aufnehmen, wenn sie die formalen Kriterien erfüllt. Tatsächlich jedoch handelt die Geschichte von Staat und Religion in Europa nicht von der Befreiung vom Religiösen. Vielmehr haben die gegenseitige Begrenzung von Staat und Kirche, der Widerstreit zwischen Aufklärung und Christentum eine fundamentale Erkenntnis hervorgebracht: Es gibt auf Erden nichts Wichtigeres als den Menschen. Keine Nation, keine Ideologie, nichts kann ihn seiner unveräußerlichen Rechte berauben. Der Staat dient, das hat er lernen müssen, dem Menschen, nicht umgekehrt. Und der demokratische Rechtsstaat, das haben die Kirchen lernen müssen, ist die einzige Staatsform, die ihrem Wesen nach mit dem christlichen Glauben vereinbar ist. Darum darf die Religion niemals nach staatlicher Macht greifen, darum darf der Staat nicht vergessen, dass er auf Voraussetzungen fußt, die er nicht selbst schaffen kann.

Dieser in Jahrhunderten blutig erkämpfte Konsens ist das Bedeutendste, was die europäische Kultur hervorgebracht hat. Und mittlerweile, man vergisst es im Alltag leicht, ist dieses Gefühl von Freiheit und Respekt in die allermeisten Poren unserer Gesellschaft vorgedrungen – nicht nur in die Parlamente und die Kirchen, auch in die Arztpraxen und die Ämter, die Ehebetten und die Schulen, die Medien und die Musik.

Wir haben ja von all dem auch das Gegenteil erlebt: dass das Recht nur Form war, das Parlament Kulisse, dass der Staat sich zum Zweck erhob, dass die Gleichberechtigung zu Ende war, wenn sich die Schlafzimmertür schloss, dass in der Schule geschlagen wurde, dass man auf dem Amt Untertan war. Darum wissen wir zu unterscheiden zwischen formaler und echter Liberalität, daher haben wir dieses starke Gefühl für Freiheit.

Das können wir nicht abstellen, wenn es darum geht, wer zu uns gehört. Die EU verträgt viel, ein verrücktes Agrarsystem oder aufwändige Gipfelbeschlüsse, die niemand versteht, auch zehn neue Mitglieder. Was sie jedoch nicht aushält, sind in Sachen Freiheit falsch gepolte Staaten wie die Türkei. Staat und Religion bedeuten dort etwas anderes. Sie sind bisher nicht Diener und Lebensform des Individuums. Sie sind vielmehr beide Instanzen, die sich für wichtiger halten als den einzelnen Menschen. In der Türkei fallen darum formale und gefühlte Demokratie immer noch weit auseinander.

Damit sich das ändert, damit die Türkei in einigen Jahrzehnten innerlich EUfähig wird, muss sich diese Lücke schließen. Dazu kann Europa viel beitragen. Doch ob es so kommt, hängt von der Türkei ab. Sie entscheidet, wann sie fähig ist, aufgenommen zu werden in den größten demokratischen Staatenbund, den die Erde je gesehen hat.

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