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2012

© picture alliance / dpa

Politik: Das Rollenverständnis

Kleider machen doch Leute. Der Rollkragenpullover hatte stets eine Aussage. Er war ein Statement. Er ist es noch heute.

Die Studentin lächelt, als sie die Frage nach dem Rollkragenpullover hört. Überrascht und verblüfft darüber, dass sich jemand, und das auch noch im Frühling, nach seinem Schicksal erkundigt. Sie legt die Nähnadel und das silber-grüne Brokatkleid beiseite. „Rollkragen, Rollkragen“, murmelt sie. Dann fällt es ihr ein. Eine Kommilitonin im Fach Mode an der Berliner Universität der Künste benutze den Rollkragenpullover derzeit für eine Arbeit zum Thema Zeit. Der Rolli müsse das Vergessen spielen. Unlesbar wie ein kaputtes Ziffernblatt, nichtssagend wie ein Gesicht, das Demenzkranke nicht mehr erkennen. Was kann man schon anfangen mit diesem Pullover? Seine Kraft, seine Legende sind verblasst. Wer ihn auf der Bühne getragen, aus Kajal geschwärzten Augen seinem Publikum zugelächelt hat? Juliette Greco? Edith Piaf und Romy Schneider? „Sorry“, sagen die Mädchen im Atelier der Mode und lassen bloß eine Ausnahme gelten. Ein Mädchen, dem sie gerne ähnlich wären. Auch wenn dieses Mädchen schon sehr lange her ist.

Sie trug ihn zu knöchellangen Hosen. Zu Musik von Gershwin. Zusammen mit flachen Schuhen und zu einem kurzen Mantel auf einem Spaziergang durch Paris. Eine berührend einfache Gestalt und einer der schönsten Menschen aller Zeiten ist sie gewesen, und sie musste sich vergeblich anstrengen, um unscheinbar zu wirken. Auf einer Leiter stand Leslie Caron, gelehnt an eine Bücherwand als Fred Astaire in ihr bücherverschlingendes Leben trat und sie zu einem ersten Tanz verführte. Sie tanzte im schwarzen Rollkragenpullover. Und küsste im schwarzen Rollkragenpullover. Dann musste sie sich von ihm trennen. Braut sollte sie werden. Nach Art des Musicals gehört die Strickware den klugen, aber leider ach so komplizierten Mädchen.

In der Pariser Bohème war er aufgetaucht: Ein Pullover, der es ernst meint mit der philosophischen Frage nach dem Sein. 1945, im Herbst. Jean-Paul Sartre hält eine Vorlesung im Club Maintenant, und die Leute stürmen den Saal. Existentialisten wird man sie nennen oder schimpfen, je nachdem. Der schwarze Rollkragenpullover ist ihr Erkennungszeichen, das feierliche Signal für die aufregende Existenz am Rande des Nichts. Nur der Mensch kann verneinen. Das sei seine Freiheit und seine Verantwortung. Man darf das pathetisch nennen. Begabt für die Schönheit des Augenblicks war es allemal.

Rauschhaft muss es gewesen sein. Befreit nach den Jahren des Krieges und der Unterdrückung. Das Leben entfaltet seinen Glanz, nicht nur im schwarzen Pullover der Philosophie. Balenciaga, Balmain, Dior und Givenchy. Auch die Meister der Pariser Haute Couture stillen ihre Sehnsucht nach Schönheit. Es lohnt, sich diesen Moment genauer zu betrachten.

Es der 12. Februar 1947, der Beginn einer Epoche. In der Avenue Montaigne 30 präsentiert Christian Dior seine erste Kollektion. Die Mannequins laufen in ungewohnt raschem Tempo, streifen Stuhllehnen und Aschenbecher der anwesenden Gäste. Die Welt sei ausgehungert nach Grazie und Weiblichkeit, sagt Dior und schenkt ihr einen „New Look“. Die zierliche Linie eines Blütenkelchs. Runde Schultern, schwingende Röcke, dazu sehr enge Taillen. Nichts sollte mehr an Krieg und Uniformen erinnern. Es mag seltsam klingen, aber der schwarze Rollkragenpullover, so schlicht er im Vergleich zu den Roben und umwerfend raffinierten Mänteln der Haute Couture scheinen mag, teilt am gegenüberliegenden Ufer der Seine diesen Sieg über die Hässlichkeit der Ignoranz.

Im Café de Flore und im „Rose Rouge“ ist er zu Hause, im „Le Tabou“, wohin Albert Camus zum Tanzen kommt. Eine junge, langhaarige Juliette Greco singt 1948 in schwarzen Hosen und schwarzem Rollkragen auf dem „cour du dragon“. Eine „Basar-Kleopatra“ ist sie gewesen, eine mysteriöse Erscheinung, deren Hände beim Singen das eigene Gesicht umspielten. So als wollten sie das Gesicht, das der hohe Rollkragen wie eine Bühne begrenzt, mit ihren Gesten ausleuchten. Den Hochmut einer theatralischen Jugend kann man auf diesem Gesicht bewundern. Eine Frau, die sich und die Liebe ernst nimmt wie einen Schwur. Miles Davis saß in einer Badewanne und spielte Bach, als sie ihn zum ersten Mal in seinem Pariser Hotelzimmer besuchte.

Was lässt sich im Vergleich über den schwarzen Rollkragenpullover von heute sagen? Dass er moderat ist, prosaisch und unauffällig in der Façon, praktisch gegen Knutschflecke und Kratzen im Hals. Ein Klassiker wie T-Shirt und Gummistiefel. Und was noch? Dass er vermehrt an Politikern vorkommt zum einen, besonders an denen, die Reue spüren und den schwarzen Rollkragenpullover für ein Zeichen der Demut halten. Dass manche Wichtigtuer ihn lieben. Die Zeitschrift GQ übte hierzu neulich scharfe Kritik. Seit Steve Jobs, dem Apple-Erfinder und Anhänger einer unkomplizierten Art des schwarzen Rollkragens, sei es offensichtlich in Mode, dieses Kleidungsstück mit dem erfolgreichen Vertrieb von „Visionen“ in Verbindung zu bringen. „Selfmade“ steht unter dem Bild eines Mannes, der sich aktuell mit der Aura des schwarzen Rollkragens schmückt. Es ist ein klarer Fall von Anmaßung. Denn dieser Pullover ist nicht das, was er vortäuscht zu sein. Er steckt voller Testosteron, riecht nach Geltungssucht und Angst um das persönliche Image. Einen schwarzen Rollkragen, glauben die Leute, zieht man an, um smart und nachdenklich zu wirken. Man gibt sich casual-kaschmirweich und will im Grunde nichts vom Zweifel wissen.

Und schon gar nichts von der Herkunft des Pullovers überhaupt, von den schottischen Fischern und Matrosen, die sich mit doppelt gestrickter Wolle schützten gegen den eisigen Wind. Am Meer, sagte der Fotograf Peter Lindbergh, sehen alle Menschen schöner aus. Sie blicken auf die Wellen und ins Weite, und ihre Gesichter bekommen dabei etwas Klares und Unsentimentales. Mit dem Rollkragenpullover ist das ganz ähnlich. Man könnte ihn preisen für seine Einfachheit, seine Fähigkeit, sich auf das Wesentliche zu beschränken. Und ganz besonders könnte man ihm danken für den Zauber der Androgynität. Für das Spiel der Verwandlung, das eine Frau beginnt, überlässt sie sich seiner strengen Silhouette und dem Verzicht auf Dekolleté.

Ein männliches Kleidungsstück seiner Herkunft nach, in die Mode eingeführt von Coco Chanel – was kann eine Frau im Rollkragenpullover nicht alles sein? Marlene Dietrich, an ein großes Auto gelehnt, rauchend. Ein Racheengel, ein wilder Junge mit kurzen Haaren. Kein anderes westliches Kleidungsstück verwischt die Grenze zwischen den Geschlechtern ähnlich konsequent. Der Frauenhals bleibt bedeckt, verweigert die Koketterie. Der Rollkragen lenkt alles aufs Mienenspiel. Jedes winzige Heben der Augenbrauen, jede kleine Nuance von Melancholie und Spott, jedes Lachfältchen, jede Blässe wird in ihm überdeutlich. So viel eigene Identität musste eine Frau sich erst einmal trauen.

„Wohin willst du nur immer in diesem schrecklichen Pullover?“ – „Du bekommst davon noch einen welken Hals!“ Die Mütter im Deutschland der 50er Jahre warnten ihre Töchter vor der vornehmen Strenge. „Willst du aussehen wie ein Mann?“, fragten sie, besorgt um den Liebreiz der Tochter. Es klang, als wäre die Tochter im Begriff zu verschwinden. In Wahrheit war das Gegenteil der Fall. Sie tauchte auf, wurde sichtbar.

Die New Yorker Kunsthistorikerin und Modeexpertin Anne Hollander könnte das erklären. Schwarz, zunächst die Farbe der Trauer und der Kirche, wird zum Zeichen gesteigerter Subjektivität. Ab dem 14. Jahrhundert erfährt es diese Umdeutung, unter dem erblühenden Einfluss der Porträtmalerei. Zur prächtigen Farbe der Renaissance steigt es auf. Schwarz veredelt das alte und schmeichelt dem jungen Gesicht, so Hollander, beim Gedanken an ein Porträt wähle man automatisch eher das schwarze als das farbige Kleid. Der schwarze Rollkragenpullover wäre im Kern also ein Kind der Renaissance? Der Kunst? Eine moderne Abstraktion? Selbstverständlich, man kann auch auf einer Couch über ihn sprechen.

Die beiden französischen Psychiaterinnen Catherine Joubert und Sarah Stern würden ihm dort sofort Hysterie quittieren. Der schwarze Pullover wecke Begehren, ohne es zu stillen. Er lasse alle möglichen Projektionen zu, sauge sie auf wie die Farben, die im Schwarz implodieren. Eine eigene Antwort aber bleibe er schuldig und stehe symbolisch für eine unerlöste Verpuppung. Für eine Abwesenheit. Zugleich für ein narzisstisch gesteigertes Bedürfnis nach Macht. Mit anderen Worten: Wer Schwarz trägt, bringt sich ins Gespräch und schweigt. Und wer schwarze Rollkragenpullover trägt, der schweigt sogar noch länger.

Vermutlich ist es eine Entscheidung, wem man lieber glaubt. Der Psychologie oder der Kunst des Dramas, zu der auch die Mode zählt. Dabei wäre zunächst zu fragen, ob der schwarze Rollkragenpullover überhaupt der Mode angehört. Könnte es nicht sein, dass er, nach einem berühmten Wort des Soziologen Georg Simmel, ein Klassiker im stillen Widerstand gegen den ewigen Wechsel der Mode ist? In jedem Fall will er mehr sein als bloßes Treibgut einer Saison. Ans Flüchtige mag er sich nicht ausliefern.

Auf dem Zeichentisch von Yves Saint Laurent verwandelt er sich 1960 unter dem Dach des Hauses Dior in eine mutwillig zeitgenössische Haute Couture. In einen „Beat Look“. Der Pullover hatte nun Lederblousons zu seiner Verstärkung und ließ sich von Helden wie Marlon Brando inspirieren – für die Kundinnen des hohen Hauses die reine Provokation. Dior zog Konsequenzen. Man trennte sich vom legitimen Nachfolger des Meisters. Laurent ging zum Militär, und von dort aus in die Pariser Rue Spontini. Mit Pierre Bergé eröffnete er einen eigenen Salon. Der Rollkragenpullover folgt ihm dankbar.

Nicht mehr wegzudenken ist er aus dem Repertoire eines neuen, ungemein körperbetonten Chic. Ein Unterzieh- Pulli, anschmiegsam und aus Jersey – so favorisiert er in den 60ern den extrem schlanken und nicht sehr vollbusigen Körper. Seine Attitüde ist cool, sein Schwarz ohne jeden schwelgerischen Unterton. In den 70ern passt der Rollkragenpullover schließlich zu Diner und feinem Smoking am Abend. Leonard Bernstein und Herbert von Karajan tragen ihn am Dirigentenpult. Er gehörte aber auch den drei Engeln für Charly. Den Architekten, den Lehrern. Eine fröhliche Joan Collins führt ihn in den 80ern als Rollkragenkleid mit schwerem, kapitalistischem Goldschmuck vor. Und Supermodel Christy Turlington war überirdisch in einem Turtleneck samt auberginefarbenem Cardigan von Calvin Klein. Mit Philosophie hatte all das indes nichts mehr zu tun.

Eher mit einem Streben nach Perfektion, einem Bedürfnis nach Unangreifbarkeit in einer Welt globaler Konkurrenzen. Glatt ist seine Oberfläche geworden. Die englische Designerin Phoebe Philo spricht von Schutz. Für das Pariser Modehaus Céline hat sie in der Saison 2010/2011 den Rollkragenpullover auf den Laufsteg geschickt, und einen Herbst lang zählte ein cremefarbener Turtleneck zu den fünf Dingen, die man laut „New York Times“ neben einer Theyskens’ Theory Cordhose, einer Jacke von Burberry, einem Kleid von Miu Miu und Gold-Band-Pumps von Givenchy unbedingt haben musste. Was nichts anderes heißt, als dass man im nächsten Moment wieder darauf verzichten konnte. Die gegenwartsverliebte Mode will es so. Und alle Rollkragenpullover gehören jetzt ihr. Nein, nicht alle. Der schwarze gehört ihr nur fast. Die Visionäre, die Geschäftsmänner und Vorstandsetagen halten vermehrt Aktien darauf. Auch deshalb ist es Zeit, sich seiner verwegenen Geschichte zu erinnern.

Wie muss es gewesen sein, sich im befreiten Paris Klamotten von den amerikanischen Soldaten zu besorgen und in einem schwarzen Rollkragenpullover fröstelnd durch Saint-Germain-des-Prés zu streunen? Eine Antwort darauf wird nicht gelingen, und was sich in den Kleiderschränken findet, sind im besten Falle Zitate einer vergangenen Epoche. Grob und feiner gestrickte. Solche mit verschlissenen Ellenbogen und andere, an denen die Motten beißen. Niemanden sollte das abhalten, an den Esprit des Pullovers zu glauben. Auch Modestudentinnen nicht und alle Frauen, die meinen, ein schwarzer Rollkragenpullover sei „körperverneinend“ und eher gedacht für trübe und graue Tage. Er ist weit mehr als das. Und jedes Mal, wenn die Modeschülerin ihn doch aus der hinteren Ecke ihres Kleiderschranks hervorholt und eigentlich nicht weiß weshalb, könnte sie das tun als Wette auf die eigene Souveränität. Wie jene junge Frau im schwarzen Rollkragenpullover auf dem Cover der amerikanischen Vogue im Dezember 1991.

Lady Di ist gerade 30 geworden und ihr Haar ist neuerdings noch ein bisschen kürzer als sonst. Die Leute zerreißen sich das Maul über ihre Ehe, die sie im ehrwürdigen Buckingham Palace vermeintlich erleidet. Die Frau liegt am Boden, das Kinn auf die französisch manikürten Hände gestützt. Der Blick dieser Frau ist amüsiert. Andererseits auch ein wenig bedrohlich. Etwas werde ich noch zu sagen haben, verspricht die Frau auf dem Bild und besteht auf der ganz eigenen Version ihrer Story. Die Frau im schwarzen Rollkragen ist kein Zaungast. Sie löst sich von dem erpresserischen Gedanken, ihren Körper erst herzeigen zu müssen, bevor sie etwas vom Kuchen abbekommt. Der Pullover ist auf ihrer Seite.

Auch die Modeschöpferin Jil Sander vertraut seiner Stärke. Eine Religionslehrerin aus Stuttgart, die mit ihrer Mutter eine Schwäche für Thomas Bernhard teilt, der selbst wiederum mehr als nur einen schwarzen Rollkragenpullover besessen haben dürfte. Der Aufruf der Kronzeugen ließe sich fortsetzen. Susan Sontags Beziehung zum schwarzen Rollkragen muss geradezu leidenschaftlich gewesen sein, und Jacqueline Kennedy, müde, den Amerikanern Rechenschaft über ihr Liebesleben zu geben, passierte 1970 hochgeschlossen den Check-in am Flughafen Heathrow. Ihr Selbstbewusstsein war überdeutlich, jenes völlige Fehlen von Unterwürfigkeit und mädchenhaftem Geziere.

Einen „Basic“ nennt man den schwarzen Rollkragenpullover heute und scheint ihn doch gar nicht mehr zu kennen.

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