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Der Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP).

© dpa/Kay Nietfeld

Update

Das rot-grün-gelbe Haushaltswunder: Kabinett beschließt Rückkehr zur Schuldenbremse

Mit Druck, Glück und ein paar kleinen Tricks: Wie Finanzminister Christian Lindner den Etat für 2023 hinbekommen hat. Im Herbst aber kann es Probleme geben.

Das Bundeskabinett hat den Etatentwurf für 2023 beschlossen. Was Finanzminister Christian Lindner (FDP) den Kollegen vorgelegt hat, grenzt an ein kleines haushaltspolitisches Wunder. Nach wochenlangem Ringen um die Einzeletats, nach harten Debatten um das Einhalten der Schuldenbremse, nach dem Verschieben des Kabinettsbeschlusses um mehr als eine Woche lag ein Entwurf auf dem Kabinettstisch, den SPD wie Grüne wie FDP als Erfolg eigener Anstrengungen bezeichnen können.

Lindner gab sich bei der Vorstellung des Entwurfs vor der Bundespressekonferenz am Freitagnachmittag vergnügt: Erstmals seit 2019 gelte im kommenden Jahr die Schuldenbremse wieder, der "Ausnahmezustand" werde beendet. Das war ein wichtigste Anliegen seiner Partei. Mission erfüllt also, jedenfalls vorerst.

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Lindner nahm für sich in Anspruch, dass er die Kabinettskollegen auf den Weg der "Konsolidierung" geführt habe - also der Einsparungen. Daneben ist das kleine Wunder aber zum einen das Ergebnis einer Übung in kreativer Haushaltspolitik, zum anderen das Resultat der schlichten Tatsache, dass der Entwurf noch nicht abbilden kann, was sich an Risiken und Herausforderungen aufbauen dürfte im Herbst – nicht zuletzt ein deutlich zurückgehendes Wirtschaftswachstum, was erste Forschungsinstitute schon voraussagen.

Daher kann Lindner vorerst für sich als Erfolg reklamieren, dass im Entwurf die Schuldenbremse ab 2023 wieder eingehalten wird. 17,2 Milliarden Euro an neuen Krediten sind nun möglich. In den Eckwerten für den nächsten Etat, die vom Kabinett Anfang März verabschiedet worden waren, stand noch eine Summe von 7,5 Milliarden. Ein Grund: Die im April nach unten korrigierte Wachstumsprognose hat der Regierung Spielraum verschafft – wenn die Konjunkturkurve nach unten deutet, erlaubt die Schuldenbremse mehr neue Schulden. Sollte die Ampel gezwungen sein, wegen des Ukraine-Kriegs und der Gaskrise ihre Herbstprognose weiter zu senken, darf Lindner noch etwas mehr neue Kredite aufnehmen.

Höhere Ausgaben

Zum Etatwunder gehört auch, dass trotz aller Krisen dieses Frühjahrs die Ausgaben nicht kleiner, sondern größer geworden sind im Vergleich zum März. In den Eckwerten waren für 2023 noch 412,7 Milliarden Euro in diesem Posten vermerkt. Nun will die Ampel 445,2 Milliarden Euro ausgeben – Lindner kam also Mehrforderungen der Kabinettskollegen entgegen. Diese hatte das Finanzministerium vor zwei Wochen noch auf mehr als 25 Milliarden Euro beziffert, später auf elf Milliarden. Nun sind es 32,5 Milliarden mehr, wobei hier jedoch zwischenzeitliche Beschlüsse der Koalition zu berücksichtigen waren – etwa eine Rücklage zur Versorgungssicherheit beim Erdgas in Höhe von 5,4 Milliarden Euro. Und es gibt höhere Ausgaben im eigenen Bereich des Finanzministers - siehe unten.

Die Mehrausgaben kann Lindner mit den höheren Einnahmen unterlegen, die sich aus der Steuerschätzung vom Mai ergeben. Im März waren in den Eckwerten noch Steuereinnahmen in Höhe von 350 Milliarden Euro veranschlagt. Nun kalkuliert der Finanzminister mit 362,3 Milliarden Euro. Ob sich das halten lässt, wenn die Konjunktur wieder schwächelt, wird die nächste Steuerschätzung zeigen. Sie findet im November statt.

Notgroschen angezapft

Um den Etat auszugleichen, musste Lindner aber auch eine Art Notgroschen nutzen. In den Überschussjahren seit 2014 hatte sich eine Rücklage angesammelt, die formell zur Deckung der nach 2015 entstandenen Flüchtlingskosten genutzt werden sollte. Tatsächlich aber wurde sie jedes Jahr verlängert und dabei auch noch größer. Auf maximal 48,2 Milliarden Euro kann die Ampel zurückgreifen. In den Eckwerten wollte Lindner noch 28 Milliarden abzweigen. Nun sollen es 40,5 Milliarden sein. Der Nachteil: Der Notgroschen ist nun ein Jahr früher als geplant aufgebraucht. Die Rücklage wird nun mit einer letzten Tranche von 7,7 Milliarden im Jahr 2024 aufgelöst.

Zu den Stellschrauben, die Lindner zur Deckung des Etats ohne höhere Neuverschuldung nutzt, gehört die Wiedereinführung einer pauschalen Stelleneinsparung in Höhe von 1,5 Prozent. Zur Deckung der Ausgabenwünsche der Kollegen hat er zudem eine pauschale Vorsorge für krisenbedingte Mehrausgaben in Höhe von fünf Milliarden Euro eingeplant.

Möglicherweise aus Rücksicht auf sich selbst und seine FDP hat er zudem eine "globale Mindereinnahme" in Höhe von 9,1 Milliarden Euro vorgesehen. Damit kann er eventuelle Steuerausfälle kompensieren - zum Beispiel, um damit den Plan seiner Partei umzusetzen, zügig den Einkommensteuertarif an die Inflation anzupassen, um so Kaufkraftverluste aufzufangen. Lindner hielt sich am Freitag dazu bedeckt - in den anderen Koalitionsfraktionen hegt man aber den Verdacht, dass genau das der Zweck der "Globalposition" ist, wie Lindner diesen Haushaltstrick nennt.

Spielen mit den Zinsausgaben

Auch bei den Zinsausgaben baut sich das Finanzministerium gern ein bisschen Spielraum auf, indem es eher an den oberen Rand der Erwartungen geht. Damit kann es Forderungen aus dem Kabinett abwehren und bei sinkenden Einnahmen gegenhalten ohne größere Einsparungen. Lindner plant in diesem Teil des Etats, der Bundesschuld, mit Ausgaben in Höhe von gut 30 Milliarden Euro. Laut dem Etatentwurf steigen die Zinszahlungen auf Bundesanleihen zwar gar nicht, sie sinken sogar nochmals leicht, weil immer mehr dieser Papiere zuletzt mit einem Nullzinskupon ausgegeben werden konnten – das entlastet die Etats noch auf Jahre hinaus. Die Neuverschuldung in diesem Jahr – knapp 140 Milliarden im Etat und 100 Milliarden im Sondervermögen Bundeswehr – scheint zudem 2023 die Zinsausgaben noch nicht deutlich zu steigern.

[Lesen Sie dazu bei Tagesspiegel Plus: Ein Problemberg, dessen Dimension noch niemand kennt]

Lindner rechnet allerdings mit einer Verzehnfachung der Ausgaben bei inflationsindexierten Anleihen – also solchen, deren Zins sich an der Preisentwicklung orientiert. 7,6 Milliarden Euro Mehrausgaben veranschlagt er hier, nach zuletzt 735 Millionen Euro 2021. Und für Preisabschläge bei der Ausgabe neuer Anleihen rechnet er nun mit 8,5 Milliarden – das hat es seit Jahren nicht mehr gegeben. Stattdessen konnte der Bund mit Preisaufschlägen noch verdienen.

Union: Ein einziges Luftschloss

Ob diese Ausgabensumme von zusammen 16 Milliarden Euro es 2023 tatsächlich in voller Höhe vom Soll ins Ist schafft, ist – wie immer bei solchen Annahmen – unklar. Aber in Haushälterkreisen im Bundestag ist zu hören, dass Lindner sich auch hier zumindest einen kleinen Puffer aufgebaut haben dürfte. Er selbst spricht davon, dass sich bei den Zinsen "eine Steilwand" vor der Koalition auftue.

Recht kritisch sieht den Entwurf der haushaltspolitische Sprecher der Unionsfraktion: „Der Haushalt ist unsolide und ein einziges Luftschloss“, sagte Christian Haase dem Tagesspiegel. „Die Einhaltung der Schuldenbremse steht nur auf dem Papier. Spätestens im Herbst wird der Bundesfinanzminister von den politischen Entwicklungen eingeholt werden. Ein Ergänzungshaushalt wird dann folgen müssen. Damit hat der Haushaltsentwurf schon jetzt ein Verfallsdatum.“

Die Einschätzung des Linken-Finanzpolitikers Christian Görke: "Lindner nutzt alle Tricks, um die Schuldenbremse formal einzuhalten: von Schattenhaushalten bis zum Plündern milliardenschwerer Rücklagen. Ehrlichkeit sieht anders aus."

Gegenwind aus der Koalition?

An einen intensiven Herbst denkt man offenbar auch bei SPD und Grünen. Von dort muss Lindner mit Gegenwind rechnen. Das hat sich am Freitag angedeutet. Der SPD-Haushaltspolitiker Dennis Rohde sagte, es sei klar, „dass bis zum Herbst noch viele unbekannte Variablen auf uns warten“: weiter Folgen von Putins Krieg, eine neue Welle der Corona-Pandemie, die hohe Inflation und die Zinswende. „All diese Punkte müssen wir während der Verhandlungen immer wieder neu bewerten.“

Der Grünen-Haushälter Sven-Christian Kindler meinte: „Wir werden uns im Herbst bei der weiteren Beratung des Haushaltsentwurfs die aktuelle Lage sehr genau anschauen und bewerten. Wenn sich die Krisen verschärfen sollten, werden wir handeln und das Notwendige finanzieren. Wir lassen die Bevölkerung in Notzeiten nicht alleine und wir sparen uns in keine Krisen hinein.“

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