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Politik: Das sollten wir uns leisten

Von Ursula Weidenfeld

Im Kern des Ganzen geht es um die soziale Gerechtigkeit, sagt Außenminister Joschka Fischer, wenn er begründet, warum Grün die beste Wahl sei. Eine gerechtere Welt, die Schöpfung für die Kinder bewahren, verspricht Kanzler Gerhard Schröder für die SPD. Eine neue Debatte über die Gerechtigkeit muss her, verlangt Gregor Gysi von der Linken. Gerecht ist, was Arbeit schafft, ruft Angela Merkel als Parole aus. Die FDP befindet in drei Worten: Gerechtigkeit ist Freiheit.

Werden also nach der Wahl mehr Kindergartenplätze, ein einfacher Steuertarif, ein Extrasteuerzuschlag für die Reichen, das Herunterfahren der Pendlerpauschale oder ein höherer Mehrwertsteuersatz die Gerechtigkeitslage im Land verbessern? Nein. Die Wahlkämpfer von heute justieren als Kanzler und Minister möglicherweise die Politik neu, sie setzen andere Akzente. Das kann richtig oder falsch sein, klug oder kurzsichtig. Nur mit Gerechtigkeit hat es kaum etwas tun. Eher mit Interessen, die man vertritt, oder um die man fürchtet.

Paul Kirchhof ist ein Finanzwissenschaftler, der Finanzpolitiker werden wollte. Er hat ein Steuermodell entworfen, wie es auch von seinem reanimierten politischen Tandempartner Friedrich Merz seit Jahren vertreten wird, ohne dass das jemanden aufregen würde. Eigentlich ganz harmlos. Kirchhof ist aber nicht harmlos geblieben. Denn er hat professoral-naiv einen Nerv berührt. Er hat die gesellschaftspolitischen Fragen unangenehm laut und unangemessen oft gestellt. Er hat zur Entscheidung gedrängt: Wie viel Eigenverantwortung und Freiheit, wie viel Zusammenhalt und Solidarität wollen wir, wie viel können wir uns leisten?

Man kann mit vielen guten Begründungen sagen, dass man die Antworten des Professors für falsch hält. Man kann auch zu dem Schluss kommen, dass Deutschland eine eigene, andere Mischung für Einzel- und Gemeinwohl findet wird, als Kirchhof vorschlägt. Aber wer es ernst meint mit der Gerechtigkeit, muss diese Diskussion führen. Offen und mit offenem Ausgang.

Meinungsforscher sagen, dass die Deutschen in ihrer Mehrheit erkannt haben, wie nötig weitere Reformen sind. Und dass sie wissen, warum dabei Eile geboten ist. Meinungsforscher sagen aber auch, dass Kirchhof die CDU die Stimmen gekostet hat, die ihr am kommenden Sonntag fehlen könnten, um die Bundesregierung zu stellen. Wenn aber nicht einmal eine offene Debatte über ein neues Steuermodell möglich ist – wie sollen dann die weit reichenden Entscheidungen möglich werden, die in den kommenden Jahren getroffen werden müssen, egal, wer regiert? Zum Beispiel in der Kranken-, der Pflege- und der Rentenversicherung. Der öffentliche Aufstieg und Niedergang Kirchhofs zeigt das ganze Dilemma. Da ist ein Gefühl, dass etwas passieren muss – aber bitte nicht gerade jetzt, hier und bei mir. Und da ist die latente Weigerung, grundsätzliche Entscheidungen zu treffen.

Es ist schon merkwürdig, wie schnell über den Kirchhof’schen Tapsigkeiten die ganz großen Themen wie die Generationen-, die Zugangs- und die Chancengerechtigkeit von der Tagesordnung verschwunden sind. Am Ende dieses Wahlkampfs erscheint die politische Szene in einer dreifachen Verneinung: als hätte die zerstrittene Linke keine Enkel, als hätten die Grünen keine Kinder und als hätten die Konservativen kein Herz. Das ist ein Fazit, das auf einen Bierdeckel passt. Paul Kirchhof hat darunter zu leiden. Gerecht ist das nicht.

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