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Politik: „Das Thema steckt unter einer Tabuglocke“

Ex-Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger über illegale Migranten und die Scheu der Politik, sich mit ihnen zu befassen

Zwischen 500000 und 1,5 Millionen Ausländer leben ohne Aufenthaltsstatus in Deutschland. Muss man ihnen helfen? Sie sind doch selbst gekommen?

Es geht nicht um Menschen, die hier im Untergrund leben, es geht um unsere Nachbarn, um sehr menschliche Schicksale. Wir haben eine moralische Verpflichtung, der man mit dem Hinweis, die Leute sollen doch unser Land wieder verlassen, nicht gerecht werden kann.

Wie reisen die Illegalen ein?

Viele kommen legal, meist aus den osteuropäischen Ländern und der Türkei, und werden dann illegal, weil sie hier bleiben und ihre Aufenthaltspapiere ablaufen. Es gibt keine typischen Fälle. Es kann genauso um Familiennachzug gehen wie um Menschenhandel.

Wovon leben diese Menschen?

Viele suchen sich Gelegenheitsjobs. Aber es ist nicht nur so, dass sie unqualifizierte Arbeit verrichten. Aus meinem Wahlkreis weiß ich, dass dort dringend Polsterer gesucht wurden, ein Handwerk, das es in Deutschland fast nicht mehr gibt. Der Unternehmer war verzweifelt, weil er nicht wusste, wie er legal jemanden beschäftigen sollte.

Was ist mit dem Zuwanderungsgesetz?

Es kann nur in den seltensten Fällen Illegalen einen Aufenthaltsstatus zuweisen. Gering Qualifizierte haben kaum eine Chance, in Deutschland legal zu arbeiten, es sei denn, sie gehören zu bevorzugten Gruppen wie Saisonarbeitern.

Viele Illegale werden hier kriminell – Tatsache oder Vorurteil?

Ein Vorurteil, soweit es Kriminalität abseits der ausländerrechtlichen Verstöße betrifft. Das Bild, das die Öffentlichkeit von Illegalen hat – Schleuser, Menschen- und Drogenhändler – trifft die wahre Situation der Menschen nicht.

Über legale Zuwanderung wurde lange debattiert. Warum nicht über illegale?

Der Begriff Illegalität löst schon eine Scheu quer durch die Parteien aus. Illegale, denken viele, sind ein Problem von Polizei und Ausländerbehörde. Illegalität ist etwas Kriminelles, und wer über mögliche Legalisierungen redet, setzt sich dem Verdacht aus, unkritisch zu sein. Das Thema steckt unter einer Tabuglocke.

Wollen Sie denn Illegale legalisieren?

Nein. So pauschal fordert das niemand, der sich damit befasst. Wir brauchen mehr Spielräume für die Berücksichtigung von Einzelfällen. An erster Stelle stehen Hilfsbedürftige, also Kranke und Kinder. In Notsituationen sollen Ärzte helfen dürfen, ohne sich strafbar zu machen. Und es ist falsch, eine Schule dazu zu verpflichten, illegal hier lebende Ausländerkinder zu melden.

Was geschieht in anderen Fällen?

Man muss ausloten, was die Härtefallkommissionen nach dem neuen Zuwanderungsgesetz leisten können. Nicht jeder Illegale ist ein Härtefall, aber die Behörden müssen differenzierter vorgehen können als bisher. Wir brauchen auch vernünftige Regelungen für so genannte Altfälle. Man sollte nicht warten, bis die Aufenthaltsgenehmigung für einen Bürgerkriegsflüchtling abläuft, sondern eine Regelung finden, mit der er bleiben kann, etwa wenn seine Familie sonst zerrissen wird.

Sind die Illegalen nicht eher ein Thema für die EU als für den Bundestag?

Natürlich. Mit Reisefreiheit und einer EU-einheitlichen Visapolitik sind die Steuerungsmittel des Nationalstaats schnell erschöpft. Aber mir scheint es so, dass die EU sich vor allem abschotten will – und das bei ständig sinkenden Zahlen derer, die nach Europa wollen.

Das Gespräch führte J. Müller-Neuhof.

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