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Politik: Das trunkene Schiff

DER REFORMKURS DER SPD

Von Tissy Bruns

Gerhard Schröder mag den Iwan nicht. Schade für die Medien. Denn die haben einen echten Narren daran gefressen, wie Generalsekretär Scholz den Parteitagsantrag getauft hatte – der medial begabte Kanzler hat es mit drei Tagen Verspätung bemerkt. Den Antrag wird es trotzdem geben, in dem alles steht, was man noch so machen könnte neben der Agenda 2010. Schade für die SPD, schade für das Land. Denn eine Doppelbotschaft von Reform Agenda und Fragen nach dem Gegenteil wird nicht reichen, um die vielen Jahre Verspätung einzuholen, mit denen sich die deutsche Reformdebatte herumschleppt. Keine Botschaft ist für die SPD und für das Land so falsch wie diese: Seht her, Leute, irgendwie geht es doch so weiter, wie es immer ging.

Es nützt kein erstes und kein zweites Machtwort des SPD-Vorsitzenden an seinen Parteivorstand, wenn der SPD-Sonderparteitag uns am Ende vorkommen wird, als hätten wir das alles schon erlebt: Vorschlag. Streit. Kompromiss. Eben das übliche Verfahren in der SPD, wenn ein Konflikt zugunsten des jeweiligen Vorsitzenden entschieden wird, seine Kritiker aber sagen können, sie hätten auch gewonnen. Der Eindruck dieses „tausend Mal erlebt“ wäre ein rauschender Pyrrhus-Sieg für Schröders Reform-Paket.

Denn die Agenda 2010 schließt keinen politischen Prozess ab, an dessen Ende den innerparteilichen Verlierern ein Trostpflaster verabreicht werden darf. Sie ist ein Anfang nach vielen vergeblichen Anfängen. Kohl, Biedenkopf, Schäuble, die FDP, Schröder, Eichel, die Grünen – alle haben schon einmal Anlauf genommen, um schließlich zu kurz zu springen. Entweder fehlte den Einsichtigen die Mehrheit. Oder der Mehrheit die Zeit und die Weitsicht. Schröder, der mit der Steuer- und Rentenreform einen verdienstvollen kurzen Sprung gemacht hat, mangelt es an allem, an Mehrheiten, Zeit und Weitsicht. Aber er hat die große Chance des doppelten Zwanges auf seiner Seite. Wie kein Kanzler vor ihm ist er persönlich zum Reformkurs verdammt, weil das sein einziger Weg zum Machterhalt ist. Und er hat den Zwang der Tatsachen auf seiner Seite.

Noch nie zuvor wurde Deutschland so nachdrücklich, so beängstigend mit der Wahrheit über sich selbst konfrontiert. Die Meldungen der letzten zehn Tage – steigende Sozialbeiträge, groteske Steuerausfälle, ausbleibendes Wachstum – untermalen dabei nur bekannte Wahrheiten. Dass wir über unsere Verhältnisse leben, wurde schon bei den zurückliegenden Reformansätzen immer wieder diskutiert und kritisiert. Die wiederholten Kurzsprünge haben uns deshalb nicht nur das Problem der verspäteten – und umso mühevolleren – Reformen eingebrockt. Wir haben bei den vergeblichen Versuchen das Verdrängen gelernt wie keine andere Nation. Demografische Entwicklung, vier, fünf Millionen Arbeitslose, Kostenexplosion im Gesundheitswesen? Schlimm, schlimm. Aber weiter geht’s ja trotzdem, wie man sieht.

Die Agenda 2010 hat deshalb nicht nur die sachliche Bedeutung, die Schröder einklagt, wenn er lediglich Details für diskutabel hält. Viel mehr noch liegt ihr Wert im mentalen Durchbruch, bei den Regierten und den Regierenden. Die Regierten müssen auf den Staat verzichten und ihre eigene Verantwortung annehmen, die Regierenden politisch führen lernen – auch auf die Gefahr kurzfristig schlechter Umfragen.

Die Streiks im konservativ regierten Frankreich zeigen, dass es kein Nachteil sein muss, wenn jene politischen Kräfte den Reformkurs verantworten, denen er besonders schwer fällt. Schröders Agenda musste in der SPD umstritten sein, weil ihre Anhänger viel zu verlieren haben. Aber einen Sinn als Stellvertreter-Streit für die ganze Gesellschaft kann er nur bekommen, wenn er entschieden, nicht, wenn er in gewohnter Manier ausmoderiert wird. Schröder kann man vieles nachsagen. Mangelnde Risikobereitschaft gewiss nicht, wenn es für ihn ums Ganze geht. Sie bewegt sich irgendwie, die SPD: Das Mitgliederbegehren ist jämmerlich versackt, die SPD-Regionalkonferenzen haben eine veränderte Stimmung an der Basis gezeigt. Schade, wenn der SPD-Vorsitzende nach dem Sonderparteitag nur zu verkünden hätte: Seht her, Leute, es ging doch, wie es immer ging.

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