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Politik: Das Wunder an der Weichsel

Erst im letzten Moment stimmen die Polen beim zweitägigen Referendum für den Beitritt – aber dann ganz klar

Politisch Totgeglaubte leben länger. Mit in die Höhe gereckten Händen eilte der so oft geschmähte Regierungschef aufs Podium. Wochenlang hatte Polens Presse über die baldige Ablösung des in der Publikumsgunst tief gefallenen Premiers Leszek Miller spekuliert. Doch als die ersten Prognosen über den Fernsehschirm flimmerten, schallten dem Buhmann der Nation begeisterte „Leszek, Leszek“-Rufe entgegen. „Lasst mich bitte fünf Minuten sprechen“, mühte sich der strahlende Sozialdemokrat, zu Wort zu kommen. „Der Gewinner des Referendums ist das Volk!“, verkündete der gelernte Elektriker. „Ab heute sind wir Bürger Europas!“

Zur Erleichterung hatte der sorgengeplagte Mann mit dem gescheitelten Silberhaar guten Grund. 77 Prozent stimmten bei Polens EU-Referendum für den EU-Beitritt, die Beteiligung lag mit 58 Prozent überraschend deutlich über der notwendigen 50- Prozent-Hürde. Das Scheitern des Referendums hätte Millers Karriere als Premier besiegelt. Bei einem EU-Beitritt per Sejm-Beschluss hätte sich die Opposition ihre Zustimmung nur durch personelle Änderung auf der Regierungsbank abringen lassen: Einer Wahlnacht der langen Gesichter wäre unweigerlich eine Woche der langen Messer gefolgt.

Miller fühlt sich durch das Referendum so gestärkt, dass er es nun wissen will. Überraschend kündigte er am Montag an, noch in dieser Woche im Parlament die Vertrauensfrage zu stellen. Hat er Erfolg, will Miller noch bis 2005 weiter regieren. Dabei hatte Staatspräsident Alksander Kwasniewski schon im April angekündigt, die Parlamentswahlen auf den 13. Juni 2004 vorzuverlegen, den Tag, an dem auch das Europaparlament gewählt werden soll.

Dass Miller so glimpflich davon kommen würde, war keinesfalls ausgemacht. Lediglich 17 Prozent der Wahlberechtigten waren am ersten Tag zu den Wahllokalen gepilgert. „Ich habe vor Aufregung und Sorge die ganze Nacht nicht geschlafen,“ bekannte bei der Stimmabgabe am nächsten Morgen die übermüdet wirkende Europaministerin Danuta Hübner. „Es müssen noch zwei Mal mehr stimmen!“, mahnte die „Gazeta Wyborzca“ in eilig verteilten Sonderausgaben. „Es wäre eine Schande, wenn wir uns bei einer solchen Entscheidung als Volk der Gleichgültigen erweisen sollten.“ Die besorgten Appelle schienen auch am zweiten Wahltag zunächst ungehört zu verhallen: Am Sonntagnachmittag lag die Wahlbeteiligung noch weit unter 40 Prozent. Doch in den letzten Stunden vor der Schließung der Wahllokale begannen sich die Polen um die Urnen zu sammeln.

„Warum sich aufregen?“, kommentierte die „Gazeta Wyborzca“ am Montag schon wesentlich entspannter das „Wunder an der Weichsel“: „Erst die Wohnung sauber machen, dann die Einkäufe erledigen, aus dem Schrebergarten zurückkommen – und dann: ganz ruhig zur Urne. Wir entern die Union eben auf polnisch – im letzten Moment.“ „Europa – was für ein glücklicher Tag: wir kommen!“, titelte begeistert das Boulevardblatt „Super-Express“. „Wir warten nicht auf die Katastrophe“, kündigte unterdessen die nationalistische Zeitung „Nasz Dziennik“ verbittert verstärkte Anstrengungen zum Sturz der Regierung – und der Abhaltung eines neuen Referendums an.

Thomas Roser[Warschau]

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