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Demjanjuk

© dpa

Demjanjuk-Prozess: Angeklagter im Dämmerzustand

Prozessbeginn gegen John Demjanjuk in München: Der 89-Jährige muss sich wegen eines Verbrechens verantworten, das in seinen Ausmaßen die Grenzen des Vorstellbaren erreicht. Doch wenn es nach Demjanjuks Rechtsanwalt ginge, dürfte dieser Prozess gar nicht stattfinden.

Ein Rollstuhl wird in den Gerichtssaal geschoben. Der Mann, der mehr darin liegt als sitzt, sieht aus, als schliefe er. Mit einem blauen Tuch ist er zugedeckt, nur Schirmmütze, Lederjacke und Pantoffeln sind zu erkennen. Als John Demjanjuk von Fotografen und Kameraleuten umringt wird, sind seine Augen geschlossen, der Mund ist geöffnet, der Atem deutlich hörbar.

Der 89-Jährige muss sich seit Montag vor dem Münchner Landgericht wegen eines Verbrechens verantworten, das in seinen Ausmaßen die Grenzen des Vorstellbaren erreicht: Die Anklage wirft ihm Beihilfe zum Mord an 27 900 Menschen vor. Demjanjuk soll zwischen März und September 1943 Wachmann im nationalsozialistischen Vernichtungslager Sobibor gewesen sein. Er habe bereitwillig an der Ermordung der Juden mitgewirkt, weil er ihren Tod aus rasseideologischen Gründen selbst wollte, sagen seine Ankläger. Seit Jahrzehnten ist es der erste Prozess in Deutschland, der sich mit den Verbrechen in den Vernichtungslagern beschäftigt. Aber auch, dass mit Demjanjuk kein Deutscher, sondern ein mutmaßlicher ausländischer Mordhelfer im Zusammenhang mit dem Holocaust vor Gericht steht, ist ein Novum in der deutschen Rechtsgeschichte. Kein Wunder also, dass sich für dieses Verfahren mehr als 220 Journalisten aus aller Welt angemeldet haben. Auf den absehbaren Andrang ist die Münchner Justiz allerdings in keiner Weise vorbereitet. Stundenlang warten die Berichterstatter vor dem Justizgebäude, nur um dann chaotische Zustände beim Einlass und bei der Sicherheitskontrolle zu erleben. Der größte Saal des Landgerichts ist viel zu klein, um allen Berichterstattern und Zuschauern Platz zu bieten. Mit über einer Stunde Verspätung kann der Prozess erst beginnen.

Mit Spannung haben auch die Nebenkläger auf diesen Tag gewartet. Sie alle sind Angehörige von Menschen, die in den Gaskammern von Sobibor ermordet wurden. Gegenüber von Demjanjuk sitzt Thomas Blatt, der als 15-Jähriger nach Sobibor deportiert wurde. Dort musste er die Habseligkeiten der Ermordeten sortieren oder den Frauen die Haare abschneiden, bevor sie in die Gaskammern getrieben wurden. Beim Aufstand der Häftlinge in Sobibor im Oktober 1943 gelang ihm die Flucht. Auch der Überlebende Jules Schelvis ist zum Prozessauftakt aus den Niederlanden angereist.

Wenn es nach Demjanjuks Rechtsanwalt Ulrich Busch ginge, dürfte dieser Prozess gar nicht stattfinden. Unmittelbar nach Beginn der Verhandlung stellt er daher einen Antrag auf Befangenheit der Richter und Staatsanwälte. Als Begründung dafür führt er frühere NS-Prozesse an, in denen SS-Männer unter Berufung auf den Befehlsnotstand freigesprochen wurden. Diese SS-Männer hatten den „Trawniki“, den ausländischen Wachmännern und Mordhelfern, in den Vernichtungslagern die Befehle erteilt oder sie ausgebildet. „Ist man schuldig, wenn man den Befehl eines unschuldigen Vorgesetzten befolgt hat?“, fragt Busch. Die „Trawniki“ seien zur Kollaboration mit den Nationalsozialisten gezwungen worden, betont der Anwalt. Sie hätten unter absolutem Befehlsnotstand gestanden. Schließlich vergleicht er die ausländischen Helfer der SS sogar mit den Juden, die in den Vernichtungslagern vor der Wahl standen, den Deutschen zu helfen oder selbst ermordet zu werden. Ein Raunen der Entrüstung geht durch den Raum. Cornelius Nestler, Anwalt mehrerer Nebenkläger, weist diesen Vergleich später zurück: „Sie, die Trawniki, mordeten. Die Juden nicht.“ Und auch das Argument, die SS-Offiziere seien freigesprochen worden, also könne man Demjanjuk nicht verurteilen, will er nicht gelten lassen. „Wenn es in der Vergangenheit Unterlassungen der deutschen Justiz gegeben haben sollte, kann das nur bedeuten, dass diese Fehler hier und heute nicht wiederholt werden.“

Als Demjanjuk seine Personalien zu Protokoll geben soll, reagiert er nicht. Während der Verhandlung dämmert er vor sich hin, scheint nicht wahrzunehmen, was um ihn herum passiert. Erst später, als die Pause beginnt und die Richter und die meisten Zuschauer den Saal verlassen haben, ändert sich sein Verhalten: Er spricht mit seinem Anwalt, bewegt zum ersten Mal an diesem Tag Kopf und Arme. Die Ärzte bescheinigen dem Angeklagten, der unter einer chronischen Knochenmarkserkrankung leidet, verhandlungsfähig zu sein. Allerdings nur zweimal 90 Minuten pro Tag. Nach der Pause wird Demjanjuk auf einer Trage liegend in den Gerichtssaal geschoben, wieder begleiten ihn drei Sanitäter. Diesmal ist er ganz zugedeckt, nicht einmal sein Kopf ist zu sehen. Er habe in der Pause gesagt, dass er nur schlecht sitzen könne, und über Kopfschmerzen geklagt, sagt der Arzt. Die Verhandlung wird für 30 Minuten unterbrochen, Demjanjuk erhält eine Schmerzspritze. Auf Nachfrage der Anwälte der Nebenkläger betont der Gutachter, dass Demjanjuk auch jetzt in der Lage war, sich klar und deutlich zu äußern. „Er spielt uns Theater vor“, sagt Jules Schelvis.

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