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Im Vernichtungslager Sobibor wurden zwischen 1942 und 1943 mehr als 250 000 Menschen getötet. Heute liegt das Gelände im Südosten Polens.

© REUTERS

Demjanjuk-Prozess: Ein Wettlauf mit der Zeit

Es wird immer schwieriger, Beweise oder gar Zeugen für Taten des NS-Regimes zu finden. Das Urteil im Fall Demjanjuk könnte neue Ermittlungen auslösen.

Berlin - Mehr als 90 Verhandlungstage, über 100 Ordner mit Akten und eine Datenbank mit 70 000 Dokumenten: So aufwendig wie der Prozess gegen den mutmaßlichen SS-Helfer John Demjanjuk war kein anderes Verfahren um NS-Verbrechen in den vergangenen Jahrzehnten, und lange hat kein NS-Prozess so viel öffentliche Aufmerksamkeit erreicht wie die Verhandlung vor dem Landgericht München II. Schließlich steht zum ersten Mal in der Geschichte der bundesdeutschen Justiz ein ausländischer Helfer der SS vor Gericht. An diesem Donnerstag soll nun das Urteil verkündet werden. Doch geht damit auch die juristische Aufarbeitung der nationalsozialistischen Verbrechen zu Ende? „Ich glaube nicht, dass es der letzte Prozess war“, sagt Thomas Will, stellvertretender Leiter der Zentralstelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg.

Bei der Behörde laufen zurzeit 14 Vorermittlungsverfahren. Die Ludwigsburger Ermittler verfolgen den Ausgang des Demjanjuk-Prozesses mit großer Spannung – und zwar nicht nur, weil das deutsche Verfahren hier seinen Anfang nahm. Ein Schuldspruch im Münchener Prozess habe auch Auswirkungen auf die Arbeit der Zentralstelle, sagt Will. „Die Wahrscheinlichkeit, dass es noch weitere Prozesse gibt, steigt mit einer Verurteilung im Fall Demjanjuk.“ Möglicherweise wird die Behörde dann die Akten von bereits eingestellten Ermittlungen noch einmal öffnen und prüfen, ob die Beschuldigten von damals noch leben.

„Seit zehn bis 20 Jahren wird immer wieder gesagt, das sei nun der letzte Prozess“, sagt der Staatsanwalt Andreas Brendel, Leiter der nordrhein-westfälischen Zentralstelle für die Bearbeitung von nationalsozialistischen Massenverbrechen. „Natürlich machen wir weiter.“ Allein in Nordrhein-Westfalen laufen im Moment 18 Ermittlungsverfahren wegen Verbrechen in der Zeit des Nationalsozialismus. Doch ob einer dieser Fälle noch vor Gericht kommt, ist selbst aus Sicht der Ermittler fraglich. Nach derzeitigem Stand sei es in all diesen Fällen „schwierig, einen hinreichenden Tatverdacht zu begründen“, sagt Brendel. Aufgeben will der Staatsanwalt deshalb aber noch lange nicht: „Das kann sich jederzeit ändern.“

Die Staatsanwaltschaft Dortmund war es etwa, die im vergangenen Jahr Anklage gegen einen ehemaligen Wachmann im Vernichtungslager Belzec erhob. Er hatte im Demjanjuk-Prozess als Zeuge ausgesagt – erst so war die Justiz überhaupt auf den Mann aufmerksam geworden, der jahrzehntelang unbehelligt in der Nähe von Bonn gelebt hatte. Doch zum Prozess kam es nicht mehr. Der Angeklagte starb vor dem Beginn der Hauptverhandlung.

Die Täter sind inzwischen weit über 80 Jahre alt, die Verbrechen liegen so lange zurück, dass es immer schwerer wird, Beweise oder gar Zeugen zu finden. Die Dortmunder Staatsanwälte gingen deshalb im Februar einen ungewöhnlichen Weg: Sie veröffentlichten zwei Fotos aus einer Serie, die Kriegsverbrechen in Russland zeigen, und baten um Hinweise. Auf den Bildern sind Wehrmachtssoldaten mit Gefangenen in Zivil zu sehen, andere, unveröffentlichte Fotos zeigen Erhängungen – ob die Opfer Juden, Kriegsgefangene oder russische Zivilisten sind, ist noch unklar. Da die Fotos anonym beim Amtsgericht im nordrhein-westfälischen Eschweiler abgegeben worden waren, wussten die Ermittler noch nicht einmal, woher sie stammen.

Der Schwerpunkt der Arbeit der Dortmunder Ermittler liegt derzeit bei Kriegsverbrechen, die in Italien begangen worden waren. Bei einem Massaker in dem Dorf Vallucciole töteten Wehrmachtssoldaten der Panzerdivision „Hermann Göring“ 108 Männer, Frauen und Kinder. Die Dortmunder Ermittler verfolgen zurzeit ein italienisches Verfahren gegen die Einheit und haben dafür ihre Akten zur Verfügung gestellt. Doch dass es in Deutschland zum Prozess gegen beteiligte Soldaten kommt, gilt als wenig wahrscheinlich.

Zur unrühmlichen Geschichte der juristischen Aufarbeitung der NS-Verbrechen gehört, dass in den 60er und 70er Jahren lediglich die oberste Führungsriege des „Dritten Reiches“ als eigentliche Tätergruppe betrachtet wurde, selbst SS-Offiziere in den Vernichtungslagern dagegen nur als Mittäter. Im Hagener Prozess um Verbrechen im nationalsozialistischen Vernichtungslager Sobibor wurden 1966 fünf von elf deutschen SS-Männern freigesprochen – wegen Befehlsnotstandes. Nach den Wachmännern in den Vernichtungslagern, die noch weiter unten in der Hierarchie standen, suchten die Strafverfolgungsbehörden gar nicht erst, mit Ausnahme der sogenannten Exzesstäter, die durch besondere Brutalität aufgefallen waren. Eine neue Generation von Juristen sehe den Befehlsnotstand nun möglicherweise anders, sagt Staatsanwalt Brendel.

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