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Demjanjuk-Prozess: Ruhendes Verfahren

Jeden Prozesstag liegt John Demjanjuk im Bett. Ob der Angeklagte schläft oder zuhört – unklar. In dieser Woche fällt das Urteil über ihn, den KZ-Wächter, aber keiner hat gewonnen.

Ein einziges Mal bricht der alte Mann sein öffentliches Schweigen. Es soll ein Scherz sein, er lächelt. „Ich bin nicht Hitler. Also was ist los mit euch?“

Diesen Satz sagt John Demjanjuk wartenden Journalisten, bevor er im Rollstuhl in den Gerichtssaal geschoben wird. Dort, vor dem Münchener Landgericht, werden in dieser Woche wohl zum letzten Mal die Verbrechen in einem nationalsozialistischen Vernichtungslager behandelt. Sobald die Sanitäter den 91-Jährigen in sein Krankenbett gehievt haben, gibt er dasselbe Bild ab wie an jedem anderen der über 90 Prozesstage, seit anderthalb Jahren. Er liegt unbeweglich da, das Gesicht zur Decke gerichtet, die Sonnenbrille setzt er nicht ab. John Demjanjuk, der sich als ehemaliger KZ-Wächter in Sobibor wegen Beihilfe zum Mord an mindestens 27 900 Menschen verantworten muss, lässt sich nicht in die Augen schauen. Er könnte seiner Dolmetscherin zuhören, die ihm jedes Wort ins Ukrainische, seine Muttersprache, übersetzt. Oder er könnte schlafen. Es ist, als ginge ihn das alles gar nichts an.

Rob Fransman ist sich dennoch sicher, dass Demjanjuk ihn bemerkt hat. So oft wie der 70-jährige Holländer hat kein anderer Nebenkläger im Münchner Gerichtssaal gesessen, schräg gegenüber dem Angeklagten. Dessen beharrliches Schweigen fasst Fransman als Beleidigung auf, für ihn und die anderen Hinterbliebenen, „vor allem aber als eine posthume Beleidigung der Opfer“.

Seine Eltern Rachel und Izak Fransman wurden am 6. April 1943 im niederländischen Westerbork in Viehwaggons gesperrt und Richtung Osten deportiert. 1992 Menschen waren in dem Zug, Juden aus den Niederlanden. Wenige Stunden nach ihrer Ankunft in Sobibor, einem kleinen Ort im besetzten Polen, lebten nur noch zwei. Rob Fransmans Eltern starben zusammen mit den anderen einen entsetzlichen Tod in den Gaskammern. Von den Einzelheiten der Vernichtungsmaschinerie war vor Gericht ausführlich die Rede. Jeweils 80 nackte Menschen wurden in Sobibor in einen 16 Quadratmeter großen Raum getrieben, in den über Öffnungen in der Decke Abgase aus einem Panzermotor eingeleitet wurden. Bis der Tod durch Ersticken eintrat, dauerte es oft mehr als 20 Minuten.

In seinem Plädoyer sagt Fransman, er hätte den Mann, der all diese Prozess-Monate in einem Bett an die Decke gestarrt hat, „sehr gern gefragt, was nun genau seine Tätigkeit in dieser Hölle war.“ Sogar eine Lüge hätte er in Kauf genommen, wenn der Angeklagte nur reden wollte. „Das hätte in meinen Gedanken wenigstens Raum geschaffen für einen Zweifel an seiner persönlichen Schuld am Tod meiner Eltern. Diesen Raum hat er mir nicht vergönnt.“

Drei Kernfragen gibt es in diesem Prozess: War Demjanjuk in Sobibor? Wenn ja, was hat er dort getan? Und hat er überhaupt eine Wahl gehabt?

Iwan Nikolajewitsch Demjanjuk wird 1920 in einem Dorf in der ukrainischen Sowjetrepublik geboren. Schon als Kind lernt er, dass in einem totalitären Regime ein einzelnes Leben nicht zählt, hunderttausende Leben nicht zählen. Als die Ukraine unter der von Stalin künstlich herbeigeführten Hungersnot leidet und Millionen Ukrainer sterben, ist er zwölf Jahre alt. Im Jahr 1940 muss der Traktorfahrer Demjanjuk zur Roten Armee. Auf der Krim gerät er im Mai 1942 in deutsche Gefangenschaft.

Darüber, wie Demjanjuks Leben von diesem Punkt an weiterging, gibt es zwei verschiedene Versionen. Die des Angeklagten und seines Anwalts lautet: Demjanjuk bleibt bis 1944 im Kriegsgefangenenlager Chelm. Wieder wird er zum Opfer, diesmal von Nazi-Deutschland. Wieder begegnet Demjanjuk dem Hunger. Tatsächlich herrschen in den Gefangenenlagern entsetzliche Bedingungen. Mehr als drei Millionen sowjetische Kriegsgefangene sterben.

Die Ankläger dagegen sagen: Demjanjuk lässt sich von der SS als Helfer rekrutieren und im Lager Trawniki ausbilden. Er wird nach Sobibor versetzt, wo er ein halbes Jahr als Wachmann arbeitet. In dieser Zeit kommen 15 Züge aus den Niederlanden an, sie bringen mindestens 27 900 Menschen. In Sobibor werden Leben vernichtet. Demjanjuk hilft „bereitwillig“ mit.

Das zu beweisen, ist heute, nach fast sieben Jahrzehnten, alles andere als einfach. Das wichtigste Beweisstück der Anklage, der von der SS ausgestellte Dienstausweis Nummer 1393, wurde für den Prozess eigens aus den USA eingeflogen. Auf dem kleinen Stück Papier ist vermerkt, dass Demjanjuk am 27. März 1943 nach Sobibor abkommandiert wurde. Zwei Gutachter bestätigten die Echtheit. Demjanjuks Verteidiger Ulrich Busch sagt dagegen, der Ausweis sei eine „Fälschung des KGB“. Doch die SS führte akribisch Buch über den Massenmord, über Opfer und Täter. Die Deutschen protokollieren die Verlegung von „Demianiuk, Iwan“ nach Sobibor und später ins Konzentrationslager Flossenbürg. Im Waffenbuch dieses Lagers wird notiert, dass Demjanjuk ein Gewehr erhält. Sollten all diese Dokumente nach dem Krieg gefälscht worden sein? Anwalt Busch sagt dazu, es könne ja noch einen zweiten Demjanjuk gegeben haben.

Schwer belastet wird der Angeklagte zudem von einem Zeugen, dessen Aussage in einem sowjetischen Verfahren gegen ausländische Helfer der SS eines der zentralen Beweismittel des Staatsanwalts ist. Heute ist der Ukrainer Ignat Daniltschenko längst tot, der ebenfalls Wachmann in Sobibor war und dafür in der Sowjetunion zu 25 Jahren Haft verurteilt wurde. „Wie alle anderen Wachmänner im Lager beteiligte sich Demjanjuk an der Massenvernichtung der Juden“, sagte er. „Ich habe oft gesehen, wie Demjanjuk, bewaffnet mit einem Gewehr, die todgeweihten Menschen in den verschiedenen Bereichen des Lagers bewachte.“ Demjanjuk sei von der Ankunft der Züge bis zum Eingang der Gaskammer dabei gewesen. Allerdings nennt Daniltschenko ein falsches Datum für Demjanjuks Überstellung nach Flossenbürg. Und Verteidiger Busch ist der Auffassung, eine Aussage aus einem sowjetischen Verfahren dürfe nicht vor Gericht verwendet werden.

Ein weiterer Mosaikstein in der Beweisführung sind Papiere, die Demjanjuk nach dem Krieg bei der Einwanderung in die USA ausfüllte. „Fahrer“ in Sobibor sei er bis 1943 gewesen, schreibt er da. Aber wie könnte jemand, der nie in dem Lager gewesen sein will, das kleine Dorf Sobibor kennen?

Der Staatsanwalt geht diesen mühsamen Weg der Beweisführung auch deshalb, weil es kaum Überlebende des Vernichtungslagers gibt und sich die wenigen nicht an Demjanjuk erinnern können. Man habe sich in allen Lagern von den Wachmännern möglichst ferngehalten, erklärt der 90-jährige Sobibor-Überlebende Jules Schelvis.

„Es ist nicht nachzuweisen, dass Demjanjuk auch nur einem Juden aus Westerbork auch nur ein Haar gekrümmt hat“, sagt Busch. Doch Staatsanwalt Hans-Joachim Lutz argumentiert, dass sich jeder Wachmann, der in dem Lager war, am Massenmord beteiligt hat. Denn Sobibor war kein Konzentrationslager wie Dachau, Bergen-Belsen, Ravensbrück. Selbst im Vernichtungslager Auschwitz wurden Häftlinge zur Arbeit eingesetzt, hier nicht. Einziger Zweck des Lagers war die Ermordung von möglichst vielen Juden. Insgesamt starben in den Gaskammern von Sobibor mindestens 250 000 Menschen. Dabei beaufsichtigten nur etwa 30 SS-Männer den Massenmord, ohne die 120 bis 150 „Trawnikis“, die ausländischen Helfer der SS, hätte die Vernichtungsmaschinerie nicht funktioniert.

Sie prügelten die Juden aus den Waggons, brachten sie zu den Gaskammern und stellten die Motoren an, aus denen die tödlichen Abgase kamen. Überlebende mehrerer Lager sagen zudem, dass viele Trawnikis die Juden mit großer Brutalität behandelten. „Die ukrainischen Wachleute waren in meinen Augen schlimmer als die SS“, sagt Jules Schelvis.

Wenn Demjanjuk in Sobibor gewesen wäre, sagt Busch, so hätte er keine Wahl gehabt, ob er mitmordet oder nicht. „Der Trawniki-Dienst war unfreiwillig, da er ausschließlich der eigenen Lebensrettung diente.“ Doch die Ankläger sagen, Demjanjuk habe in all den Monaten die Möglichkeit zur Flucht gehabt. „Je schwerwiegender das Verbrechen ist, zu dem eine Person veranlasst werden soll, desto größere Anstrengungen sind von dieser Person zu erwarten, sich dem Verbrechen zu entziehen“, betont Staatsanwalt Lutz.

Die Helfer der SS erhielten Sold, bekamen Ausgang, sogar Urlaub und fielen des Öfteren durch Trunkenheit auf. Hunderte Trawniki-Männer seien desertiert, schreibt der Historiker Peter Black. Demjanjuk wurde von einer SS-Hundestaffel einmal erwischt, als er das Lager Trawniki unerlaubt verlassen hatte, um im Dorf Salz und Zwiebeln zu kaufen. Auch dieses Dokument wurde im Prozess gegen Demjanjuk zum Beweisstück.

Nun wird also zum ersten Mal ein deutsches Gericht ein Urteil in einem Holocaust-Prozess über einen nichtdeutschen Angeklagten fällen. Sechs Jahre Haft fordert der Staatsanwalt. Aber ohne einen Zufall und einen ehrgeizigen Ermittler hätte es diesen Prozess nie gegeben.

Thomas Walther, zuvor Amtsrichter in Lindau, wollte sich nach seinem Wechsel zur Zentralstelle für die Aufklärung von NS-Verbrechen in Ludwigsburg nicht damit abfinden, dass es dort, wie ihm Kollegen sagten, kaum noch etwas zu tun gäbe. Als er eines Tages im Internet las, dass die USA John Demjanjuk die Staatsbürgerschaft aberkannt hatten, weil er nach seiner Einreise die Unwahrheit über seine Vergangenheit gesagt hatte, begann Walther mit seinen Nachforschungen. Jahrzehntelang hatte die Zentralstelle bei NS-Verbrechern nur nach der einen, konkret nachweisbaren Tat gesucht – aber nicht wegen Beihilfe zum Mord ermittelt.

Demjanjuks Anwalt, der den Prozess mit Kaskaden von Beweis- und Befangenheitsanträgen in die Länge gezogen hatte und sich im Gerichtssaal wütende Wortgefechte lieferte, spricht von einem „Schauprozess“. Mit einer Verurteilung wolle sich Deutschland „von der Alleinschuld am Holocaust freisprechen“, so Busch.

Demjanjuk werde zum zweiten Mal desselben Verbrechens angeklagt, kritisiert die Verteidigung und spielt auf einen Prozess gegen ihn in Israel an, in dem es um ein anderes Vernichtungslager ging. Augenzeugen identifizierten ihn als den außergewöhnlich brutalen Wachmann „Iwan der Schreckliche“ von Treblinka, 1988 wurde er zum Tode verurteilt. Nach fünf Jahren in der Todeszelle rettete ihm die Öffnung der sowjetischen Archive das Leben. Dokumente zeigten, dass ein anderer gemeint war. Hinweise, die auf Sobibor deuteten, hatte man im Prozess ignoriert.

Nach dem riesigen Justizirrtum wurde das Verfahren nicht noch einmal aufgerollt. „Der Fall ist abgeschlossen, aber unvollendet“, hieß es im Freispruchs-Urteil des israelischen Obersten Gerichts. In Deutschland wollte man ihn nun vollenden? „Dass der Angeklagte ein zweites Mal vor Gericht steht, ist schlicht die Konsequenz seiner Lebenslüge, der Lüge, nicht an der Judenvernichtung beteiligt gewesen zu sein“, sagt nun der Nebenklagevertreter Cornelius Nestler.

Martin Haas ist mit seiner Frau um die halbe Welt geflogen, um Demjanjuk vor Gericht zu sehen. Er war fünf Jahre alt, als er seine Mutter, seinen neunjährigen Bruder Izaak und seine zehnjährige Schwester Elisabeth zum letzten Mal sah. Sie wurden in Sobibor ermordet, der Vater in Auschwitz. In der Nacht vor der Deportation versteckte die Mutter die beiden jüngsten Kinder bei katholischen Familien. Nur deshalb überlebte Martin Haas den Holocaust. Dem 74-Jährigen, der heute in San Diego lebt, sind Wut und Enttäuschung über den schweigenden Angeklagten anzumerken. „Er hat 67 Jahre lang nur gelogen.“ Anders als Schelvis, der sich aus humanitären Gründen gegen eine Bestrafung ausspricht, fordert Haas die Höchststrafe – 15 Jahre – für Demjanjuk. Haas hat auf eine Entschuldigung gehofft, auf Reue oder zumindest eine Erklärung, warum Demjanjuk sich zum Rädchen in der Mordmaschinerie der Nazis machen ließ – vergeblich. „Herr Demjanjuk, j’accuse, ich klage Sie an, dass Sie ein Feigling sind ohne jegliche Reue, ein williger Henker der SS.“ Der Angeklagte schweigt auch dazu.

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