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Demokratiedefizite: Türkei reformiert Türkengesetz

Das Gesetz, das die "Beleidigung des Türkentums" verbietet, soll geändert werden. Ankara will den Missbrauch durch Richter beenden. Bisher wurde das Gesetz gerne herangezogen, um gegen unliebsame Meinungsäußerungen vorzugehen.

Istanbul - Die Türkei ändert ein Gesetz, das in den vergangenen Jahren zu einem Symbol der Demokratiedefizite in Ankara geworden ist. Parlamentspräsident Köksal Toptan leitete am Montag einen Änderungsentwurf für den „Türkentum“-Paragrafen 301 des Strafgesetzbuches zur Beratung an den Rechtsausschuss des Parlaments. Wegen der großen Mehrheit der Regierungspartei AKP von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan in der Volksvertretung ist mit einer raschen Verabschiedung der Novelle zu rechnen.

Wichtige Einzelheiten der Neuregelung sind allerdings noch unklar – eine Tatsache, die die nach wie vor bestehenden Probleme der Türkei im Umgang mit der Meinungsfreiheit offenbart. Das Gesetz, das die „Beleidigung des Türkentums“ und staatlicher Institutionen verbietet, ist von nationalistischen Anwälten, Staatsanwälten und Richtern in mehreren hundert Prozessen benutzt worden, um gegen unliebsame Meinungsäußerungen vorzugehen. Prominentestes Opfer war Literatur-Nobelpreisträger Orhan Pamuk, der wegen Äußerungen zur Armenierfrage vor Gericht stand. Im März verurteilte ein Gericht in Istanbul die Menschenrechtlerin Eren Keskin aufgrund eines Interviews im Tagesspiegel nach Paragraf 301 wegen Beleidigung der Armee zu sechs Monaten Haft. Keskin will das Urteil anfechten.

Auf Druck der EU und innertürkischer Kritiker hatte Erdogan letzte Woche die Novelle vorgelegt, rechtzeitig vor einem Besuch von EU-Kommissionspräsident Jose Manuel Barroso und Erweiterungskommissar Olli Rehn. Eine Verzögerungstaktik der kemalistischen Opposition verhinderte aber eine sofortige Parlamentsberatung. Auch Montag blieb unklar, wie der neue 301 aussehen soll. Unstrittig ist, dass der vage Begriff des „Türkentums“ durch die konkretere „türkische Nation“ ersetzt werden soll. Parlamentspräsident Toptan und andere Politiker sind aber dagegen, dass der Staatspräsident, wie in der Novelle vorgesehen, künftig Ermittlungen nach Paragraf 301 zustimmen muss. Toptan ist dafür, das Justizministerium damit zu beauftragen. Thomas Seibert

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