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Politik: "Demokratischer Schnickschnack" - die Bürger betrachten die Wahl des Staatsoberhauptes mit Skepsis

Bereits in den frühen Morgenstunden kurvten Lautsprecherwagen durch Moskaus Straßen, um die Bürger an ihre nobelste Pflicht zu erinnern - die Wahl des Staatsoberhauptes. "Höchst überflüssig", fand ein älterer, leicht angetrunkener Herr das Ganze.

Bereits in den frühen Morgenstunden kurvten Lautsprecherwagen durch Moskaus Straßen, um die Bürger an ihre nobelste Pflicht zu erinnern - die Wahl des Staatsoberhauptes. "Höchst überflüssig", fand ein älterer, leicht angetrunkener Herr das Ganze. Gleich nach dem feierlichen Akt der Stimmabgabe versuchte er auszurechnen, wie viel Wodkaflaschen man für das Geld hätte unters Volk streuen könne, das für die Herstellung der Stimmzettel verpulvert wurde. "Ganz Russland wäre mindestens drei Tage blau gewesen. Wozu brauchen wir diesen demokratischen Schnickschnack? Putin hätte längst die Macht ergreifen sollen. Auf gut russisch, bumbum und fertig."

Eine abgemilderte Variante dieses Verfahrens hatte unmittelbar nach Jelzins Rücktritt schon der private Fernsehsender NTW empfohlen: Bei Zustimmungsraten von damals über 70 Prozent, so ein Kommentator, täte es auch ein Volksentscheid.

"Vor vier Jahren, als Boris Jelzin und Gennadij Sjuganow sich bei der Stichwahl gegenüberstanden, hatten wir wenigstens noch die Wahl zwischen einem ehemaligen und einem amtierendem KP-Funktionär", klagt ein Physikprofessor. "Jetzt steht nicht ein einmal mehr eine Entscheidung zwischen KP und KGB auf der Tagesordnung."

Wohl wahr. Zwar haben militärische Schlappen in Tschetschenien Putins Image des immer siegreichen Feldherrns leicht beschädigt. Dennoch zweifelte niemand, dass er das Rennen machen würde. Andrang herrschte daher in weder in der Provinz noch in den 3000 Moskauer Wahllokalen.

Im Informationszentrum der Zentralen Wahlkommission herrschte streckenweise helle Panik: Die Pazifikregionen und Ostsibirien meldeten Wahlbeteiligungen, die teilweise nur knapp oberhalb der 50-Prozent-Grenze lagen. Bei weniger hätte der Urnengang für ungültig erklärt werden müssen. Analytiker aber hatten bereits im Vorfeld der Wahlen gewarnt: Um Putin im ersten Wahlgang auf den Chefsessel im Kreml zu hieven, bedarf es landesweit einer Beteiligung von mindestens 50 Prozent.

Weiche Knie bekam die Wahlkommission daher auch bei Meldungen über den Verlauf der Abstimmung in Moskau. Dort hatten sich, nicht zuletzt, weil am Sonntag auch in Russland die Uhren auf die Sommerzeit umgestellt wurden, bis zum späten Nachmittag erst ganze 40 Prozent zum Gang ins Wahllokal aufraffen können.

Nur die Kandidaten selbst und andere Prominente fanden zeitig aus dem Bett. KP-Chef Gennadij Sjuganow hatte an Wahlsonntagen schon bessere Laune. Gerüchte zu Rücktrittsabsichten nach seiner Niederlage wollte er weder bestätigen noch verneinen. "Die Partei hat genug Kader", grummelte er . Keiner solle glauben, dass die Kommunisten am Ende seien.

Ultranationalist Schirinowski drückte beim Ausfüllen des Stimmzettels seinen Kugelschreiber so kräftig auf, dass das Papier einen Riss bekam und der Wahlakt wiederholt werden musste. "Richtig geschnitten gibt das anderthalb Minuten Sendezeit", jubelte die Crew des ersten Programms angesichts der ansonsten ereignislosen Wahl.

Wladimir Putin dagegen, der kurz nach halb zwölf mit Ehefrau Ljudmila in einem Forschungsinstitut im Moskauer Südwesten aufkreuzte, konnte mit Sensationen nicht dienen. Trotz schier unverwüstlicher Gesundheit wirkte er nach dem Reisemarathon der letzten Woche sichtlich ermattet. Journalisten erfuhren daher nur, er werde den Rest des Tages in der Sauna verbringen und nur abends kurz im Stab vorbeischauen. Er wolle am nächsten Tag wieder fit sein, denn eine schwere Woche stehe bevor.

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