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"Momentan stößt alles auf Zustimmung, was sich gegen Israel richtet", sagt Charlotte Knobloch.

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Demonstration gegen Antisemitismus: Charlotte Knobloch zum Judenhass: „Die Anständigen scheinen zu schlafen“

Vor der Demonstration gegen Antisemitismus in Berlin hat Charlotte Knobloch, Präsidentin der jüdischen Gemeinde in München, mit dem Tagesspiegel gesprochen - über Judenhass in ganz Europa, Israels Politik und ihre Gefühle für Deutschland.

Frau Knobloch, an diesem Sonntag wird vor dem Brandenburger Tor gegen Antisemitismus demonstriert ...
... ich möchte Ihnen zuerst etwas anderes erzählen. Etwas, das mich sehr umtreibt.
Gerne.
In Bayern findet ebenfalls am Sonntag zum ersten Mal ein Gedenktag statt für die Opfer von Flucht, Vertreibung und – jetzt kommt’s – Deportation. Das ist eine Initiative der Länder Bayern und Hessen.
Was stört Sie daran?
Es ist zwar richtig und wichtig, an die Opfer von Flucht und Vertreibung zu erinnern. Aber das Wort „Deportation“ ist in diesem Zusammenhang missverständlich und sehr unglücklich gewählt. Für mich gehört „Deportation“ in den Kontext der Judenvernichtung, ein Synonym für Todesurteile.
Aber gemeint ist offenbar die Vertreibung der Deutschen.
Ja. Dass der Begriff bei diesem Gedenktag benutzt wird, ist für mich ein weiteres Zeichen für eine zunehmende Geschichtsvergessenheit und Gleichgültigkeit gegenüber dem, was uns Juden angetan wurde. Ein anderes Beispiel: Auf den jährlich stattfindenden „Palästina-Tagen“ in München wird neuerdings der Begriff „Genozid“ benutzt, wenn es um die israelische Politik geht – ein Propaganda-Begriff palästinensischer Terroristen, der nicht der Realität entspricht.
Glauben Sie, dass die Mehrheit der Deutschen für eine derartige Agitation empfänglich ist?
Momentan stößt alles auf Zustimmung, was sich gegen Israel richtet.
Gibt es eine Entfremdung zwischen der jüdischen Gemeinschaft und der Mehrheitsgesellschaft?
Dieses Gefühl haben viele Juden. Das erste Mal spürten wir bei der Beschneidungs-Debatte, wie groß die Freude ist, Juden zu kritisieren.
Hat Sie das auch persönlich getroffen?
Das hat mich sehr verletzt. Deutschland ist meine Heimat. Wir Juden haben dem Land trotz der Schoah die Treue gehalten. Wir haben unsere Koffer ausgepackt und sind hiergeblieben. Davon hat Deutschland profitiert, weil das von der Weltgemeinschaft sehr wohl registriert wurde.
Im Sommer haben arabischstämmige Männer bei Demonstrationen gegen den Gazakrieg antisemitische Parolen gebrüllt.

Zentralratspräsident Dieter Graumann spricht von einem der schlimmsten Sommer seit der Nazizeit. Wie haben Sie die vergangenen Monate erlebt?
Dieser Judenhass, der uns in ganz Europa entgegenschlägt, belastet mich sehr. Der einzige Lichtblick war der Zuspruch der Politik, allen voran der Bundeskanzlerin. Die Juden müssen offenbar unter dem Schutz der Politik und der Sicherheitskräfte stehen. Das macht mich sehr nachdenklich. Es klafft eine Lücke zwischen der politischen Räson und der gesellschaftlichen Stimmung.

Fühlen Sie sich von der Bevölkerung im Stich gelassen?

Absolut. Einige haben sich mit uns solidarisiert. Aber diese Transparente mit diesen schrecklichen Parolen, das hat mich sehr verletzt! Solche furchtbaren Worte, dass man hierzulande Juden so diffamieren und ausgrenzen darf – unfassbar.

Pro-Palästinensische Demonstranten in Berlin - es habe sie erschreckt, was zum Teil an Transparenten zu sehen war bei Demos in Berlin, sagt Charlotte Knobloch.
Pro-Palästinensische Demonstranten in Berlin - es habe sie erschreckt, was zum Teil an Transparenten zu sehen war bei Demos in Berlin, sagt Charlotte Knobloch.

© dpa

Am heutigen Sonntag soll mit der Demonstration „Steh auf! Nie wieder Judenhass!“ ein Zeichen gesetzt werden. Wie wichtig ist diese Kundgebung?
Sehr wichtig. Schade nur, dass der Zentralrat dazu aufrufen muss. Warum kommt die Initiative dazu nicht aus der Mitte der Gesellschaft?
Vermissen Sie den vielbeschworenen „Aufstand der Anständigen“?
Die Anständigen scheinen eingeschlafen zu sein. Es überwiegt ein leichtfertiges Vertrauen in die Stabilität unserer Gesellschaft. Doch die kann schnell ins Wanken geraten. Wir sind alle zu Recht stolz auf unser Land. Doch das, was da mit einer ungeheuren gesamtgesellschaftlichen Kraftanstrengung erreicht wurde, muss jetzt verteidigt werden – nicht nur von jüdischer Seite.
Gehört zu einem vernünftigen Patriotismus auch, für eine Minderheit wie die Juden einzustehen?
Wer sein Land liebt, der liebt auch seine Werte. Dazu gehört in Deutschland, dass man die Würde jedes Einzelnen verteidigt.

Aus welchen Quellen speist sich der Antisemitismus der vergangenen Monate?
Dieser Antisemitismus hat viele Gesichter. Die Judenfeinschaft unter Muslimen ist ein Problem. Doch auch viele Ewiggestrige sind erwacht, das sehen wir an der Sprache der Hassbriefe, die wir bekommen. Darunter sind aber auch Zuschriften von Lehrern und Ärzten, die noch gar nicht alt sind. Der Hass kommt aus der breiten Mitte der Gesellschaft. Ich könnte die Staatsanwaltschaft ziemlich beschäftigen, wenn ich alle Beleidigungen, Hetztiraden und Bedrohungen weiterleiten würde. Aber der Antisemitismus war noch nie nur eine Randerscheinung. Er ist schon immer auch aus der Mitte gekommen.
Wo liegt für Sie die Grenze zwischen Israel-Kritik und Antisemitismus?
Niemand hat etwas gegen sachliche Kritik an Israel. Kein anderes Land wird von den Deutschen so kritisch betrachtet wie der jüdische Staat. Das ist auch gut so. Aber Vergleiche mit den nationalsozialistischen Verbrechen und die ganze Nazi-Terminologie sind absolut unerträglich. Das ist Antisemitismus.
Ist es Aufgabe des Zentralrats der Juden in Deutschland, die israelische Politik zu erklären?
Die Juden in der Diaspora sollten Brücken bauen zwischen ihren Heimatländern und Israel. Aber der Zentralrat ist nicht die israelische Botschaft.
Was bedeutet Ihnen Israel?
Mir geht es wie vielen jüdischen Familien in Deutschland: Ich habe Verwandte in Israel. Meine Tochter und drei Enkel leben dort. Sie ist Ärztin in Tel Aviv. Meine Enkel haben studiert und stehen auch schon im Berufsleben. Während der Raketenangriffe durch die Hamas habe ich mir natürlich große Sorgen um sie gemacht. Sie selbst fanden das auch beängstigend: Dass sie sich flach auf die Straße legen mussten, wenn die Sirenen heulten.
Was sagen Ihre Tochter und Enkel, wenn sie hören, was hier auf deutschen Straßen gerufen wird?
Das können die sich nicht vorstellen. Meine Enkel sind 22, 26 und 32 Jahre alt. Die hatten bisher eine sehr positive Einstellung zu Deutschland. Jetzt sind sie total entsetzt. Sie sagen zu mir: „Das darfst du dir nicht bieten lassen, komm zu uns!“

Und, wie reagieren Sie?

Ich sage ihnen: Deutschland ist meine Heimat, und ich fühle mich auch meinen Vorfahren verpflichtet, für das jüdische Leben in unserem Land zu kämpfen. Und ich verteidige Deutschland dann immer, weil ich es ja so gerne habe.

Israel - nach wie vor eine Zufluchtstätte für Juden, sagt Charlotte Knobloch.
Israel - nach wie vor eine Zufluchtstätte für Juden, sagt Charlotte Knobloch.

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Für Juden ist Israel immer eine Zufluchtstätte gewesen. Ist das noch so?
Selbstverständlich. Ich habe ja noch vor Augen, wie verzweifelt die Menschen waren, wenn sie ihre Deportationsbefehle bekommen haben. Mein Vater und ich haben Visa für die USA bekommen. Aber meine Großmutter, die mich großgezogen hat, war zu alt. Sie hat keine Genehmigung zur Einreise bekommen. Deshalb sind mein Vater und ich in Deutschland geblieben. Wenn man das erlebt hat, ist man froh über ein Land wie Israel, das verfolgte jüdische Menschen aufnimmt. Wir wissen nicht, wie viele in den nächsten Jahren davon Gebrauch werden machen müssen. Für Minderheiten in aller Welt sieht es ja derzeit schlimm aus. Ich habe mir nicht vorstellen können, was jetzt Christen im Irak Schreckliches angetan wird.
Stört es Sie, wenn Ihnen entgegnet wird, in Deutschland lebe es sich doch gut. Auch der Antisemitismus sei etwa in Frankreich viel schlimmer?
Das ist kein Argument! Es geht immer schlimmer. Viele Franzosen sind bereits nach Israel ausgewandert. Auch, weil die Judenfeindschaft unter den Muslimen extrem verbreitet ist. Aber hier ist es schlimm genug.
Lange Zeit haben sich jüdische Gemeinden weitgehend abgeschottet. Erst der frühere Präsident des Zentralrats, Ignatz Bubis, ist offensiv auf die nichtjüdische Umwelt zugegangen. Doch er war am Ende seines Lebens sehr resigniert. Wie geht es Ihnen?
Ich habe in den vergangenen Monaten oft an Bubis gedacht und an seinen Ausspruch: „Ich habe fast nichts erreicht.“ Damals habe ich ihm zugeredet: „Das stimmt nicht, du hast wahnsinnig viel erreicht!“ Er ist ja pausenlos gereist, bis in die hintersten Winkel, wo die Menschen noch nie einen Juden gesehen haben. Ihnen wollte er zeigen: Seht her, ich bin ein Mensch aus Fleisch und Blut wie ihr. Wenn er heute noch leben würde, er hätte sicherlich schon längst seine Koffer gepackt und wäre nach Israel gegangen.
Und Sie?
Ich bin im Herzen Optimistin. Im Moment zwinge ich mich allerdings dazu. Ich hoffe, dass diese schwer zu ertragende Zeit irgendwann vorbei ist. Dass ich mich wiewieder über ein gutes Miteinander von Juden und NichtJuden freuen kann.
Ihre Koffer bleiben also ausgepackt?
Ja. Ich kämpfe weiter.
Kommen Sie am Sonntag nach Berlin?
Ja, ich werde da sein. Und ich würde mich auch persönlich sehr freuen, wenn sehr viele andere Menschen auch kommen würden.

Das Gespräch führten Christian Böhme und Claudia Keller.

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