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Ein ukrainischer Soldat in der Kampfstellungen an der Trennlinie zum pro-russischen Separatistengebiet.

© Efrem Lukatsky, dpa

Den Abgrund vor Augen: Droht ein Krieg in der Ukraine?

Russland, die Ukraine und der Westen: Die Spannungen steigen. Biden und Putin reden am Dienstag.

Seit Wochen verstärkt Russland seine Truppen an mehreren Grenzabschnitten zur Ukraine. Die Regierungen der Ukraine und der USA warnen, Ziel könne ein Angriff von mehreren Seiten im Januar sein, an dem sich nach Angaben des ukrainischen Geheimdienstes auch Belarus beteiligen könnte. Bereitet Wladimir Putin eine Invasion vor? Oder möchte er mit der Drohkulisse Verhandlungen über eine erneute Aufteilung der Einflusssphären in Europa erreichen?

Am Dienstag sprechen US-Präsident Joe Biden und er bei einem Videogipfel. Welche Ziele verfolgen Russland, die Ukraine, die USA und Europa?

Will Wladimir Putin nach der Krim nun auch die ganze Ukraine Russland angliedern?

Moskau bestreitet vehement, dass es Planungen für eine Invasion in der Ukraine gebe. Aber der russische Präsident warnte in jüngster Zeit wiederholt und deutlich, der Westen müsse mit Versuchen aufhören, Kiew in den Einflussbereich des Westens zu ziehen. Da gebe es für Russland eine „rote Linie“, was sich durchaus so auffassen lässt, als wäre der Kreml bereit, für die Durchsetzung seiner Position auch militärische Mittel einzusetzen.

Die Massierung von Truppen an der Grenze ist vorerst eine Drohkulisse, doch die Situation ist inzwischen so weit eskaliert, dass jede noch so kleine Fehleinschätzung oder gar Fehlentscheidung fatale Folgen haben kann.

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Das nötige Selbstbewusstsein für militärische Aktionen muss man Putin seit der Annexion der Krim 2014, dem von Russland unterstützten Krieg in der Ostukraine und dem weitgehend erfolgreichen Militäreinsatz in Syrien zutrauen. Dieses Selbstbewusstsein ist 2021 noch gewachsen, es war ein erfolgreiches Jahr für den russischen Präsidenten.

Die hohen Weltmarktpreise für Öl und Gas haben viele Milliarden in die Staatskasse gespült. Die Dumawahl ging problemlos über die Bühne. Auf außenpolitischem Gebiet läuft es auch. Der ewige Widerpart, die USA, scheinen aus Moskauer Sicht auf dem absteigenden Ast, erheblich geschwächt durch innenpolitische Querelen. Mit China weiß man einen mächtigen Partner an seiner Seite.

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Bereits im März/April dieses Jahres hatte der russische Präsident im Westen massive Befürchtungen ausgelöst mit einem massiven Truppenaufmarsch an der Grenze zur Ukraine und ausgedehnten Manövern. Während eines Treffens im Juni in Genf versprach Putin dem US-Präsidenten, die militärische Präsenz werde nach den Übungen wieder heruntergefahren. Das ist nicht passiert.

Gleichzeitig verschärfte Putin seine Rhetorik in Richtung Ukraine. Das fand seinen Höhepunkt in einem Essay, den er im Juli publizierte. In ihm lieferte Putin die historische, politische und militärstrategische Begründung für einen Angriff auf die Ukraine – wann immer der notwendig würde.

Die Argumente in dem Artikel: Die Ukraine war nie ein unabhängiger Staat und ist keiner. Sie ist ein untrennbarer Teil Russlands, selbst der Name bedeute ja nicht mehr als „an der Grenze“. Der gegenwärtige ukrainische Staat sei ein ahistorisches Gebilde, nur ein Sammelsurium von Regionen, die die Sowjetunion zusammengeführt hat. Als Teil Russlands sei es der Ukraine immer gut gegangen. Deren Unabhängigkeit sei inspiriert und finanziert von Russlands Feinden. In den kremlnahen Medien wird für die Ukraine in jüngster Zeit öfter die Formel „unsere benachbarte Heimat“ verwendet.

Warum ist die Ukraine für Putin so wichtig?

Der russische Präsident hat seit seinem Machtantritt vor mehr als 20 Jahren mehrfach versucht, die Ukraine zurück in den russischen Orbit zu zwingen. Das Nachbarland ist für den Kreml aus einer Vielzahl von Gründen wichtig: Auf einer emotionalen Ebene ist Kiew untrennbar verbunden mit dem Gründungsmythos des russischen Imperiums. Russland ist gewissermaßen nicht vollständig ohne die Ukraine. Wie Belarus könnte die Ukraine als strategischer Puffer für den zunehmend als Feind empfundenen Westen fungieren. Und in sowjetischen Zeiten leistete die Ukraine durch seine hochentwickelte Industrie einen gewaltigen Beitrag zur Volkswirtschaft der UdSSR.

Biden und Putin trafen sich im Juni in Genf.
Biden und Putin trafen sich im Juni in Genf.

© imago images/ITAR-TASS

Was will Joe Biden erreichen?

Biden kennt sich bei der Ukraine besser aus als viele andere. Als Vizepräsident von Barack Obama fiel dieses Thema in seinen Verantwortungsbereich. Obama war damals bemüht, sich nicht allzu fest an die Seite Kiews zu stellen, er fürchtete, Putin würde andernfalls den Einsatz immer weiter erhöhen. Ob Biden nun entschlossener ist, Kiew zu verteidigen, ist schwer zu sagen. Als strategisch größte Herausforderung sieht er das Herrschaftsstreben Chinas. Genau diese Unklarheit ist aber wohl auch Strategie.

Der amerikanische Präsident will vor allem eines nicht: eine rote Linie ziehen, auf deren Überschreitung dann möglicherweise nichts folgt. Biden und sein Außenminister Antony Blinken vermeiden es, sich darauf festnageln zu lassen, was passiert, wenn Putin wirklich die Ukraine angreift. Gleichzeitig warnte Biden am Freitag den russischen Präsidenten, er werde keine roten Linien akzeptieren. Am selben Tag berichteten mehrere amerikanische Medien über Geheimdienstinformationen zu den Truppenbewegungen, die von der Regierung gestreut worden waren. Offenbar sind die Sorgen der Amerikaner seit dem Aufmarsch im April deutlich angewachsen, dass Putin es tatsächlich ernst meinen könnte.

Noch setzt das Weiße Haus auf Diplomatie und Deeskalation. Es ist der Versuch, Putin zu zeigen, dass man ihn ernstnimmt – und dass man sieht, was er treibt. In der vergangenen Woche war auch von einem möglichen zweiten persönlichen Treffen der beiden Präsidenten die Rede. Nun telefonieren sie am Dienstag erstmal miteinander.

Im Vorfeld beeilt sich Washington, eine einheitliche Linie mit den Verbündeten herzustellen und bereitet eine Reihe potenzieller Wirtschaftssanktionen und Sanktionen gegen Personen im unmittelbaren Umfeld Putins vor. Auch warnen die Dienste vor einer Desinformationskampagne gegen die Ukraine und die Nato, die bereits begonnen habe. Biden erklärte, man wisse schon länger, was da vor sich gehe. Über eine Ausweitung der militärischen Unterstützung Kiews will Washington dagegen eher nicht sprechen. Dahinter stehen Befürchtungen, dass dies die angespannte Situation weiter aufheizen könnte. Gleichzeitig warnen Experten, Russland könne daraus schließen, dass die Amerikaner letztlich nicht eingreifen würden, um die Ukraine zu retten.

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) sprach mit Wolodymyr Selenski im Sommer bei einem Besuch in Kiew.
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) sprach mit Wolodymyr Selenski im Sommer bei einem Besuch in Kiew.

© dpa

Wie reagieren die Bundesregierung, die anderen Europäer und die Nato?

Mitglieder der amtierenden und der künftigen Bundesregierung drohen Putin mit hohen Kosten, falls er die Ukraine angreife. Das tun auch andere EU-Staaten und die Nato. Putin hält sie aber nicht für entscheidende Mächte in der aktuellen Eskalation und bei den für ihn wichtigen Kernfragen: Setzt der Westen die Annäherungsstrategie für Nato-Kandidaten wie die Ukraine und Georgien fort, die bisher keine konkrete Aussicht auf Beitritt haben? Erhält die Ukraine westliche Waffen, die der russischen Armee gefährlich werden können und die Zahl ihrer Opfer erhöhen? Würden die angedrohten Wirtschaftssanktionen spürbar schärfer ausfallen als bisher und den Ausschluss vom internationalen Zahlungsverkehr beinhalten? Ein Treffen im sogenannten Normandie-Format mit Deutschland und Frankreich, das Kanzlerin Angela Merkel vorschlug, hat Putin kürzlich abgelehnt.

In den Ampel-Parteien SPD, Grüne und FDP fragen einzelne Politiker, ob der bisherige Kurs von Dialog und Entgegenkommen ein Fehler war. Hätte Putin die Ukraine angegriffen, wenn die Nato 2008 die Ukraine und Georgien aufgenommen hätte? Das scheiterte damals an Deutschland und Frankreich. Solche Stimmen sind aber in der Minderheit.

Eine Mehrheit möchte keine Eskalation riskieren – auch wenn eine Folge ist, dass Putin eskalieren kann, ohne fürchten zu müssen, dass der ihm ökonomisch und militärisch überlegene Westen diese Ressourcen einsetzt, um Russland zum Rückzug zu zwingen. Bei der Energiewende sowie dem gleichzeitigen Ausstieg aus Kohle und Atomkraft setzt Deutschland zudem auf russisches Gas zur Energieversorgung.

Im Frühjahr hatte sich der Grünen-Vorsitzende Robert Habeck nach einem Besuch in der Ukraine für die Lieferung von Verteidigungswaffen ausgesprochen, wurde dafür aber in seiner Partei und von der SPD kritisiert. Die britische Regierung hat einen Vertrag über die Modernisierung der ukrainischen Marine geschlossen.

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron warnte Putin kürzlich in einem Telefonat vor einem Angriff. Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg drohte, Russland werden einen „hohen Preis“ zahlen, wenn es die Souveränität der Ukraine missachte. Die Nato hatte ihre Solidarität mit der Ukraine im Oktober in einem gemeinsamen Manöver im Schwarzen Meer unterstrichen.

Polen und die Baltischen Staaten wünschen sich angesichts der Eskalation in der Ukraine mehr Nato-Truppen auf ihrem Gebiet. Sie haben aber nicht zur militärischen Unterstützung der Ukraine im Fall eines russischen Angriffs aufgerufen.

Wie verhält sich die Ukraine?

Die Führung in Kiew hält einen russischen Angriff für wahrscheinlich, aber nicht unabwendbar. Aber zugleich weiß sie, dass die Ukraine ohne massive Unterstützung des Westens keine Chance gegen den russischen Druck hat, der sich nicht nur als militärische Bedrohung manifestiert. Auch innenpolitische Konflikte wie jüngst zwischen dem russlandnahen Kohle-Oligarchen Rinat Achmetow und der Regierung spielen Moskau letztlich in die Hände.

Wie könnte die Situation entspannt werden?

Es spricht einiges dagegen, dass Putin den „großen Krieg“ will. Er verlangt jetzt eine völkerrechtlich verbindliche Vereinbarung über gegenseitige Sicherheitsgarantien. Das Problem aus westlicher Sicht: einen solchen Vertrag hat es mit dem Budapester Memorandum von 1994 bereits gegeben. In ihm garantierte Russland der Ukraine als Gegenleistung für den Verzicht auf Atomwaffen die Unverletzlichkeit seiner Grenzen. Diesen Vertrag hat Putin 2014 mit der Krim-Annexion gebrochen. Also fehlt das Vertrauen völlig, dass der Kreml diesmal zu seinem Wort stehen würde. Zudem würde der russische Vorschlag letztlich auf ein „neues Jalta“ hinauslaufen. In Jalta hatten sich 1945 Stalin, Roosevelt und Churchill auf eine Teilung Europas in Einflusssphären geeinigt – über die Köpfe der betroffenen Völker hinweg.

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