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Horst Seehofer (CSU), Bundesminister des Innern, für Bau und Heimat, bei der Vorstellung der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) 2018

© Wolfgang Kumm/dpa

Der doppelte Seehofer: Erst die Angst herbeireden, dann sie beklagen

Innenminister Seehofer argumentiert zur Kriminalstatistik mit der gefühlten Unsicherheit der Bürger. Das ist ziemlich perfide. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Anna Sauerbrey

Eine leichte funktionale Schizophrenie gehört zum Anforderungsprofil eines jeden patenten Bundesinnenministers. Zumindest einmal im Jahr ist die Fähigkeit zur gespaltenen Persönlichkeit eine Tugend, nämlich dann, wenn es gilt, die polizeiliche Kriminalitätsstatistik vorzustellen. Bei diesem Ritual muss er zwei scheinbar unvereinbare Positionen vortragen: Es gilt einerseits, die Erfolge der Polizei herauszustellen (und damit letztlich den eigenen Beitrag zur Sicherheit der Bürger zu loben). Und es gilt andererseits, die Bedrohung ausreichend groß erscheinen zu lassen, um für die Sicherheitsbehörden mehr Geld und mehr Kompetenzen fordern zu können.

Horst Seehofer hat das drauf. Als er am Dienstag die Kriminalstatistik 2018 vorstellt, verbreitet er die Botschaft: „Deutschland ist eines der sichersten Länder der Welt.“ Und dann: Um die Erfolge zu sichern, braucht es mehr Ausrüstung und mehr Rechte.

Um diese beiden sehr unterschiedlichen Botschaften zusammenbringen zu können, half ihm die „gefühlte Sicherheit“ der Deutschen, besonders die der Frauen. Denn auch, wenn die Zahl der erfassten Straftaten tatsächlich gesunken ist, ist das Unsicherheitsgefühl der Bürger gestiegen. Das geht aus der „Viktimisierungsstudie“ hervor, die BKA und Innenministerium gemeinsam mit dem Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht erarbeitet haben und die das Sicherheitsgefühl der Bürger in den Jahren 2012 und 2017 vergleicht – also vor und nach der Migrationskrise.

Auf Twitter und in den politischen Reaktionen ging der Trend in eine ähnliche Richtung. Sowohl die AfD als auch einzelne Nutzer argumentierten mit ihrem „Gefühl“, um den Rückgang der Straftaten insgesamt – auch denen, bei denen Nicht-Deutsche tatverdächtig sind – in Frage zu stellen. Besonders herhalten musste (wieder einmal) das gestiegene Unsicherheitsgefühl von Frauen, ihre gestiegene Angst vor sexuellen Übergriffen. Diese Angst hatte BKA-Präsident Holger Münch in der Pressekonferenz besonders hervorgehoben – und damit der Debatte effizient einen bestimmten Rahmen gegeben.

Vergewaltigungen rückläufig

Tatsächlich ist der Anteil nichtdeutscher Tatverdächtiger an den Sexualdelikten laut Kriminalstatistik überproportional hoch. Die relativierenden Faktoren sind allerdings ebenso bekannt: Junge Männer sind in dieser Gruppe per se häufig vertreten. Besonders viele Zuwanderer waren in den vergangenen Jahren junge Männer. Insgesamt ist die Zahl der Vergewaltigungen in Deutschland weiter rückläufig.

Da dieses Lieblingsthema der Rechten mittlerweile bis weit in die politische Mitte diskutiert wird, wäre es eigentlich nicht verwunderlich, wenn sich das Sicherheitsgefühl von Frauen tatsächlich nachhaltig verschlechtert hätte. „Überdurchschnittlich“ zugenommen habe die Furcht von Frauen vor sexueller Belästigung, behauptete Holger Münch.

Das gibt die Statistik allerdings nicht her. Die Zahl der Bürger insgesamt, die sich „eher unsicher“ oder „sehr unsicher“ fühlen, hat um fünf Prozentpunkte zugenommen. Die Zahl der Frauen, die sich vor sexueller Belästigung fürchten, hat um 1,6 Prozentpunkte zugenommen. Weiterhin fühlt sich der überwiegende Teil der Frauen aber sicher (77,8 Prozent).

Mit der gefühlten Unsicherheit der Bürger zu argumentieren, um ein bestimmtes Narrativ aufrechtzuerhalten, ist schon ziemlich perfide – oder eben eine besonders seltsame Form der innenministerlichen funktionalen Schizophrenie: Horst Seehofer hat kräftig daran mitgewirkt, die Angst herbeizureden. Nun will er sie politisch einsetzen. Noch schlimmer allerdings ist das: Zu behaupten, die Bevölkerung sei zunehmend beunruhigt, obwohl sie trotz aller politischen Versuche der Verunsicherung gar nicht so viel mehr beunruhigt ist – und dann auf Basis dieser nur vermeintlich stark zunehmenden Beunruhigung Politik zu machen.

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