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Anschlag in Berlin: Gedenken an die Opfer vom Breitscheidplatz

© dpa/Sophia Kembowski

Der Fall Anis Amri: Das Dilemma der Ermittlungen

Was auch immer die Berliner LKA-Beamten verbrochen haben mögen - sie sind nicht unmittelbar verantwortlich für die Toten und Verletzten vom Terroranschlag am Breitscheidplatz. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Jost Müller-Neuhof

Je mehr über die Hintergründe des Attentats von Anis Amri am Berliner Breitscheidplatz bekannt wird, desto größer wird der Aufklärungsbedarf. Was wie ein Widerspruch aussieht, ist bei näherer Betrachtung nur folgerichtig: Strafverfolger, Ausländerbehörden, Polizei, Gerichte und Geheimdienste waren mit dem Mann befasst, bevor er zum Mörder wurde. Sie sammelten Wissen, legten Akten an, schoben sie weg oder weiter; sie trafen Entscheidungen oder unterließen es, wo sie es hätten tun müssen. Eine dokumentierte Fülle an Möglichkeiten, das später Geschehene zu verhindern. Umso grotesker und entsetzlicher wirkt das Versagen, genau dies versäumt zu haben.

Die Empörung über die neuesten Wendungen fügt sich ein in diese Logik. Es erweckt schon den Eindruck einer Kapitulation, wenn ein Innensenator Strafanzeigen erstattet, weil Beamte des Landeskriminalamts in dem Fall Ermittlungsergebnisse gefälscht und Dokumente manipuliert haben sollen. Strafvereitelung und Urkundenfälschung – wenn schon das Attentat selbst angeblich nicht verhindert werden konnte, warum konnte niemand diese Vertuschung verhindern?

Wer Antworten sucht, wird die richtigen Fragen stellen müssen. Letztere könnte die falsche sein oder zumindest eine voreilige. Noch fehlt es an Informationen. Es drängt sich zwar ein Versäumnis auf, wenn Polizisten trotz handfester Hinweise auf gewerbsmäßigen Drogenhandel die Füße still und die Handschellen im Schrank behalten. Doch gibt es Motive für solches Handeln, die polizeiintern durchaus anerkannt sind. Etwa langfristige verdeckte Ermittlungen und die Absicht, Hintermänner zu fassen. Nicht alles, was Kriminalbeamte hier tun oder unterlassen, bildet sich später korrekt in den Akten der Staatsanwaltschaft ab.

Näheres zu erfahren, wird nicht einfacher, jetzt, da aus den Betroffenen Beschuldigte werden, die ein Recht darauf haben zu schweigen. Eben deshalb kann über die Motive nur spekuliert werden. Sollten die Beamten gute Gründe für ihr früheres Nichtstun angeben können, wäre zu fragen, weshalb sie, statt auf Verständnis zu hoffen, in die Lüge flüchteten. Vielleicht, weil die öffentliche Aufarbeitung des Falls den ehemals an der Amri-Beobachtung Beteiligten allesamt erscheinen muss wie ein Tribunal? Dann würde sich bestätigen, dass es der Aufklärung dienlich sein kann, sich mit Schuldzuweisungen zurückzuhalten. Was auch immer diese Beamten verbrochen haben mögen, sie sind es nicht, die für die Toten und Verletzten vom Dezember 2016 unmittelbar verantwortlich sind.

Dass Geisel nicht zögerte, darf als vertrauensbildende Maßnahme gelten

So viel Fairness muss sein, auch bei einem Urteil über das Handeln der Politik. Dass Innensenator Geisel offenbar nicht zögerte, den Vorgang auf den Tisch zu legen, darf als vertrauensbildende Maßnahme gelten, auch wenn der nun eingetretene Schockeffekt kurzfristig das Gegenteil bewirkt. Zutage gebracht sind damit erste Ergebnisse des Sonderermittlers Bruno Jost, der die Dinge umfassend aufklären soll. Das ist beachtlich für den früheren Bundesanwalt, der den Berliner Abgeordneten im Innenausschuss vor einigen Tagen noch mitgeteilt hatte, keinen „zuverlässigen Überblick“ zu haben und damit offenkundig tiefstapelte.

Zugleich ist es bedenklich, wenn derselbe Ermittler davon spricht, Schwierigkeiten bei der Einsicht von insbesondere staatsanwaltschaftlichen Akten zu haben. So etwas darf nicht passieren, wenn die Regierenden den Untersuchungsauftrag so ernst nehmen, wie er gemeint sein muss. Wie soll ein Überblick gewonnen werden, wenn dazu weniger Befugnisse zur Verfügung stehen, als sie Parlamentarier oder sogar Journalisten in Anspruch nehmen können?

Erst wenn diese Mittel erschöpft sind, wäre über einen Untersuchungsausschuss zu reden, wie ihn die Grünen auf Bundesebene längst fordern. Ein Anliegen, das absehbar im Wahlkampf und der neuen Zusammensetzung des Parlaments zermahlen würde. So oder so wird bald noch Weiteres über Fehler und Versäumnisse zu hören und zu lesen sein, die im Fall Anis Amri gemacht wurden. Überraschen muss uns nichts mehr.

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