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Im Fall Edathy sind viele Fragen noch ungeklärt.

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Der Fall Edathy: Was können wir wissen?

Je mehr bekannt wird über den Fall Sebastian Edathy, desto mehr Widersprüche werden deutlich. Eine Rekonstruktion der Ereignisse bringt neue Erkenntnisse – und wirft zugleich neue Fragen auf.

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Seine erste Antwort, gesendet per SMS von einem unbekannten Ort, besteht aus einem Wort: „Wozu?“ Sebastian Edathy sieht keinen Sinn mehr darin zu reden. Sich zu erklären. Auf Fragen eine Antwort zu geben. Seine Antwort.„Ich verstehe Ihr Interesse. Antwort ist: Nein.“

Dabei gäbe es noch so viel zu klären. Widersprüche aufzulösen. Lücken zu schließen. Seltsamkeiten auszuleuchten. Warum, zum Beispiel, bestellt sich einer, der politisch gegen Kinderpornografie kämpft, privat Filme bei einer Firma, die Kinderpornografie verbreitet? Je tiefer und genauer geschaut wird auf diesen Fall, desto mehr offene Fragen tun sich auf – menschliche, kriminalistische, politische, gesellschaftliche. Und immer mehr spricht dafür, dass das noch nicht alles war. Dass da noch mehr ist.

Aufstieg und Abstieg liegen nah beieinander

Am 20. Oktober 2005, einem Donnerstag, beginnt der Aufstieg des Sebastian Edathy. Was lange Zeit niemand ahnt: Schon einen Tag später beginnt auch sein Abstieg.

Die Bundestagswahl, an deren Ende die SPD zwar den Kanzler verloren hat, nicht aber die Regierungsbeteiligung, liegt einen Monat zurück, seit vier Tagen verhandeln Union und SPD über die Bildung einer großen Koalition. Sebastian Edathy hat seinen Wahlkreis Nienburg-Schaumburg in Niedersachsen wieder direkt gewonnen. Er wird in die Verhandlungsgruppe Innenpolitik berufen. An diesem 20. Oktober tagt sie zum ersten Mal, unter der Leitung von Wolfgang Schäuble. Am 21. Oktober bestellt Edathy zum ersten Mal bei einer Online-Plattform in Kanada Bilder von nackten Jungs. Kunden können Top-Listen erstellen, Filme und Fotos bewerten – und mit Kreditkarte bezahlen. So macht es auch Sebastian Edathy. Einen Monat später leitet er als Vorsitzender den Innenausschuss des Bundestags.

Widersprüche und Parallelitäten

Der Fall Edathy ist voller Widersprüche und atemberaubender Parallelitäten. Als der Abgeordnete zum ersten Mal in Kanada Ware bestellt, ist diese Seite gerade frisch auf dem Markt. Und was war davor? Hatte Edathy noch mehr Material als jenes aus Kanada? Kannte er sich 2005 schon aus in der Szene? Wie ist er auf den kanadischen Versand gestoßen? Es sind solche Fragen, die in Hannover die Staatsanwaltschaft dazu veranlasst, neun Jahre später, am 10. Februar 2014, ein Ermittlungsverfahren gegen Edathy einzuleiten. 31 Lieferungen mit Aufnahmen nackter Jungs im Alter zwischen acht und 14 Jahren hat Edathy innerhalb von fünf Jahren bestellt und bezahlt. Er leugnet es nicht, ein strafbares Verhalten aber streitet er ab.

Es sind fünf Jahre, in denen er als Abgeordneter und Ausschussvorsitzender keinen Konflikt scheut. Der Union wirft er in der Debatte um die doppelte Staatsbürgerschaft „Biologismus und völkische Ideologie“ vor, Rücktrittsforderungen aus dem Kreis des Koalitionspartners übersteht er.

Bekenntnis gegen Kinderpornografie

Am 25. Mai 2009 bekennt sich Edathy so klar es nur geht zum Kampf gegen Internetpornografie. „Sexuelle Gewalt gegen Kinder ist ein abscheuliches Vergehen“, schreibt er auf seiner Internetseite. In den vergangenen Jahren habe der Deutsche Bundestag deshalb das Herstellen, die Verbreitung und den Besitz von Kinderpornografie lückenlos unter Strafe gestellt. Der Verbreitung von Kinderpornografie über das Internet, sagt Edathy, „darf meines Erachtens nicht tatenlos zugesehen werden“.

Im Sommer 2009 beschließt die Koalition aus Union und SPD auf Antrag der damaligen Familienministerin Ursula von der Leyen (CDU), Internetseiten mit Kinderpornografie zu sperren. Edathy stimmt dem Gesetz zu. Und er rechtfertigt sich auf seiner Homepage dafür. Mit der neuen gesetzlichen Regelung, schreibt Edathy einem Frager, werde „nicht nur die Verbreitung kinderpornografischer Inhalte im Internet bekämpft, sondern zugleich werden Internetnutzer geschützt, rechtsstaatliche Grundsätze gesichert und ein transparentes Verfahren ermöglicht“.

Zur gleichen Zeit solidarisiert sich Edathy mit einem aufgebrachten Radio-Hörer, der ihm berichtet, von der Leyen behaupte, Kinderporno-Server in Indien könne man nicht sperren, weil man keinen Zugriff darauf habe. Edathy, selbst indischer Abstammung, beweist Sachkenntnis: „Die Republik Indien ist überaus strikt, was die Bekämpfung von Kinderpornografie betrifft“, belehrt er, und: Es sei ihm „nicht bekannt, dass Internet-Server in Indien bezüglich der Verbreitung von Kinderpornografie auffällig sind“.

Der erste politische Tiefschlag

Noch im Jahr 2009 erlebt Edathy den ersten politischen Tiefschlag. Er gilt als klug und konzentriert, aber auch als unnahbar, ernst und arrogant. Bei der Wahl des innenpolitischen Sprechers der SPD-Fraktion hat er keinen Rückhalt mehr und verliert das Amt. Von den Bildern auf seinen Rechnern ist da noch nichts bekannt.

Edathy bestellt weiter Bilder in Kanada, bis zum 18. Juni 2010. Dann ist Schluss. Es ist der Tag, als die deutsche Nationalmannschaft bei der Weltmeisterschaft in Südafrika 0:1 gegen Serbien verliert. Und es ist der Tag, an dem Edathy per Pressemitteilung verkündet, dass die 71-jährige Rentnerin Leni Könemann aus Rehburg in seinem Wahlkreis bei der Verlosung einen Tribünenplatz bei der Bundesversammlung gewonnen hat.

Ermittlungen gegen Plattform in Kanada

Warum er nach 2010 nichts mehr bestellt hat, ist eine der offenen Fragen. Fest steht jedoch, dass im Jahr 2010 die zunächst verdeckten Ermittlungen gegen die Bestell-Plattform begannen. Die Webseite von Brian Way, bei der Edathy bestellt, haben die Kanadier seit ihrem Start 2005 im Blick. Aber zunächst halten sie das dort angebotene Material, was Way als „naturalistisch“ bezeichnete, weil es keine expliziten sexuellen Handlungen zeigte, für zu harmlos.

Erst als verdeckte Ermittler selbst die Videos und Fotos bestellen, bemerkten sie, dass die Grenze zur Kinderpornografie mehrfach überschritten wurde. Sie nehmen Ermittlungen auf – auch gegen Kunden. Chef-Ermittlerin Joanna Beaven-Desjardins spricht von „horrorhaftem sexuellen Missbrauch – so schlimm, wie wir ihn selten sehen“.

„Spade“ nennen die kanadischen Ermittler ihre Aktion. Ein Spaten gräbt ins Tiefe, in den Abgrund. Er befördert den Dreck nach oben. Und die kanadische Polizei hat Untiefen erreicht: 40 Lehrer, neun Priester, neun Ärzte und Pfleger, 32 freiwillige Kinderbetreuer, sechs Strafverfolger und Justizbeamte, drei Väter aus Pflegefamilien – sie sind nur ein Teil derer, die weltweit verhaftet werden. Die Kanadier sprechen von einer der größten internationalen Ermittlungen im Zusammenhang mit Kinderpornografie.

800 Deutsche in Kundendatei

Die kanadischen Ermittler stellten bei Way nicht nur 45 Terrabyte Film- und Fotomaterial fest, sondern auch die gesamte Kundendatei, in der auch 800 Deutsche vermerkt sind. Im Oktober 2011 senden die Kanadier die Liste der 800 deutschen Kunden an das Bundeskriminalamt (BKA). Doch dort passiert erstmal nichts. BKA-Chef Jörg Ziercke sagt, dass ein anderes Verfahren, „Operation Tornado“, Vorrang hatte. Auch da ging es um Kinderpornografie. Die Liste aus Kanada bleibt ein Jahr liegen, unbearbeitet. Ein Jahr, in dem der Name Edathy dem BKA im Zusammenhang mit Kinderpornografie vorlag, ihn aber niemand bemerkte.

In diesem Jahr steigt Edathy zur moralischen Instanz auf. Im November 2011 fliegt das Terrortrio „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) auf. Zehn Morde, Sprengstoffanschläge und Banküberfälle gehen vermutlich auf das Konto der Rechtsextremen. Deutschland ist geschockt.

NSU-Untersuchungsausschuss

Ende 2011 ist klar, dass sich ein Untersuchungsausschuss mit den NSU-Verbrechen auseinandersetzen soll. Der Name Edathy kommt ins Spiel. Er ist nicht nur erfahrener Innenpolitiker, sondern hat auch sein ganzes Leben mit Fremdenfeindlichkeit zu tun gehabt, persönlich und politisch. Er ist der perfekte Vorsitzende. Am 26. Januar 2012 nimmt der Ausschuss seine Arbeit auf. Er deckt Ermittlungspannen auf, es kommt zu Rücktritten wie dem des Verfassungsschutzpräsidenten Fromm. Es beginnen zähe Auseinandersetzungen mit dem Bundesinnenministerium, mit dem Verfassungsschutz, mit den Landesämtern für Verfassungsschutz, mit Landeskriminalämtern – und dem BKA.

Im August 2012 stimmt Sebastian Edathy auf der Internetseite „Abgeordnetenwatch“ einem Anfrager zu: Auch er finde, „dass Kinderpornografie zu bekämpfen ist“. Die entsprechenden gesetzlichen Bestimmungen allerdings seien „meines Erachtens ausreichend“.

Im Oktober 2012 macht sich das BKA an die Unterlagen aus Kanada. Die Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main wird eingeschaltet, weil dort die „Zentralstelle zur Bekämpfung von Internetkriminalität“ (ZIT) angesiedelt ist. Zur selben Zeit wird BKA-Präsident vor dem NSU-Untersuchungsausschusses vernommen, auch Vizepräsident Jürgen Maurer und ehemalige Mitarbeiter müssen als Zeugen aussagen. Immer wieder geht es um die Frage: Warum hat das BKA nichts unternommen?

Edathy gibt Interviews im türkischen Fernsehen. Er ist präsent auf allen Kanälen. Doch den Ermittlern fällt in ihren Akten über die Operation „Spade“ immer noch nichts auf. Oder doch? Die Liste der 800 deutschen Kunden ist jetzt allen 16 Landeskriminalämtern bekannt. Kreditkartennummern sind darauf, IP-Adressen, Mail-Adressen. Die Ermittler müssen den Daten Namen zuordnen. Dann entdeckt das niedersächsische Landeskriminalamt eine Adresse aus der Region Nienburg, die dortige Polizeidirektion wird eingeschaltet – und die kennt einen der Namen.

Hielt das BKA Informationen zurück?

Es ist der 15. Oktober 2013. Beim BKA schlägt der Name ein „wie eine Bombe“, so erzählt es später BKA-Chef Ziercke. Die Bundestagswahl ist gerade vorbei, der NSU-Untersuchungsausschuss hat seine Arbeit unter dem Applaus der Weltöffentlichkeit abgeschlossen. Edathy und die fünf Obleute waren so etwas wie die parlamentarischen Helden der 17. Legislaturperiode. Das, was Ziercke die Bombe nennte, schlummert da schon seit fast zwei Jahren beim BKA. Mindestens seit einem Jahr kamen die Ermittler dem Namen Edathy näher.

Trotzdem dauerte es bis zum 15. Oktober 2013. Zufall? Hielt das BKA Informationen zurück, damit nicht der Eindruck entsteht, die Sicherheitsbehörden wollten sich an ihrem Chef-Ankläger Edathy rächen? Wurde da bewusst etwas zurückgehalten, um Deutschland in einem ohnehin blamablen Fall nicht noch weiter zu blamieren? Das BKA schweigt dazu.

Ziercke, Fritsche, Friedrich, Gabriel, ...

Am 15. Oktober geht dann alles ganz schnell. Die Polizei Nienburg informiert das BKA, die Behörde setzt ihren Chef Ziercke in Kenntnis, der ruft am nächsten Tag bei Innenstaatssekretär Klaus-Dieter Fritsche an, der wiederum informierte seinen Vorgesetzten, den damaligen Innenminister Hans-Peter Friedrich (CSU). Wieder sind Koalitionsverhandlungen, wieder zwischen Union und SPD, und wieder könnte Edathy einer für die Verhandlungen sein. Mehr noch. Er ist einer für höhere Aufgaben.

Friedrich informiert SPD-Chef Sigmar Gabriel, der wiederum setzt Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier und Fraktions-Geschäftsführer Thomas Oppermann ins Bild. Oppermann, „fassungslos und schockiert“, wie er selber sagt, ruft BKA-Chef Ziercke an, um „die Dinge einordnen“ zu können. Kurz darauf starten die Koalitionsverhandlungen. Edathy ist in keiner Verhandlungsrunde. Das ändert sich erst, als seine Bremer Parteikollegin Yasemin Karakasoglu verzichtet und Edathy nachrückt.

Besorgte SPD-Fraktionskollegen

Mit Edathy geht es bergab, sichtbar. Fraktionskollegen machen sich Sorgen. Er wirkt fahrig, unkonzentriert, noch zurückgezogener als schon zuvor. Edathy, so schildert es Oppermann, will im November mit dem Fraktionsgeschäftsführer reden, über seine politische Zukunft, die Personalplanung. Oppermann sagt, er habe ihm diesen Wunsch gewährt. Dass er da schon wusste, was man Edathy bald vorhalten wird, hat er ihm nicht gesagt – sagt Oppermann.

Am 14. November 2013 gehen die kanadischen Behörden an die Öffentlichkeit. Sie erklären, dass ein Kinderpornoring gesprengt wurde. Im Mittelpunkt steht jener Vertrieb, bei dem Edathy online Filme und Bilder bestellt hat. Eben deshalb, so stellt es Edathy jetzt dar, habe sein Anwalt Kontakt mit der Staatsanwaltschaft aufgenommen. Das Ziel: Kooperationsbereitschaft zeigen, signalisieren, dass man bei ihm nichts Strafbares finden würde.

Edathy sagt, niemand habe ihm einen Tipp gegeben. Doch der frühere niedersächsische Innenminister Heiner Bartling behauptet das Gegenteil: Edathy habe ihm gegenüber klargemacht, jemand habe ihn gewarnt. Aber wer? Jemand aus dem politischen Umfeld? Aus Ermittlerkreisen?

Januar 2014. Edathy ist offiziell krankgeschrieben. Es sind nur noch wenige Tage bis zum großen Knall.

Erst die Mandatsniederlegung, dann die Durchsuchungen

Am 6. Februar setzt die Staatsanwaltschaft Hannover, die die Ermittlungen leitet, ein Schreiben für den Bundestagspräsidenten auf, in der die Ermittlungen gegen Edathy angezeigt werden sollen. Am nächsten Tag, das Schreiben ist noch längst nicht angekommen, legt Edathy in Berlin sein Mandat nieder. Dem Immunitätsausschuss kommt Edathy zwar zuvor, denn der Brief aus Hannover kommt erst sechs Tage später an – geöffnet. Warum der Brief offen war, ist bis heute ungeklärt. Für Edathy ist es aber auch so zu spät. Denn am 10. Februar werden seine Wohnung und seine Büroräume in Niedersachsen durchsucht. Eine Lokalzeitung bekommt Wind davon und berichtet über die Vorwürfe. Der Fall nimmt seinen öffentlichen Lauf, der Name Edathy fällt im Zusammenhang mit Kinderpornografie.

Was folgt, ist ein politisches Beben. Erst zeigt sich der neue SPD-Fraktionschef Oppermann überrascht und geschockt; er fordert die Staatsanwaltschaft auf, zügig und gründlich zu ermitteln. Doch Tage später gibt er zu, von dem Fall schon länger zu wissen – und reißt damit auch den früheren Innenminister Friedrich als Informanten in den Strudel der Affäre, ebenso wie den BKA-Chef Ziercke. Was folgt, ist eine ernsthafte Belastung der Koalition, der Edathy nicht angehören sollte, um sie nicht zu belasten.

Ein neuer Versuch, mit Sebastian Edathy zu reden. Gibt es irgendetwas, über das er aus seiner Sicht sprechen möchte? Seine Antwort, wieder per sms: „Geht’s noch?“ Und kurz darauf: „Glauben Sie, da ist aktuell medial noch irgendwas aus meiner Sicht zu gewinnen?“

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