zum Hauptinhalt

Der Fall Thomas S.: Das Berliner LKA vertraute dem Spitzel

Es ging um eine Neonazi-Band, das Berliner LKA wollte sie hochnehmen. Dafür heuerte sie Thomas S. als Informanten an, registrierten ihn als „VP 562“. Zehn Jahre lang lieferte er Hinweise aus dem rechtsextremen Milieu – nur über die brisantesten sprach er nicht.

Von Frank Jansen

Der Mann war nervös. Thomas S. zitterte, sein Blick war unruhig, er nuschelte. Der Rechtsextremist saß Beamten der Landeskriminalämter Sachsen und Berlin gegenüber, sie wollten mit ihm über seine Aktivitäten für die Neonazi-Band Landser reden und über seine Position in der Szene. Der bullige Mensch mit den kurzen Haaren und dem akkuraten Kinnbart hatte Angst. Die zwei Berliner Polizisten überlegten – so berichteten sie es später ihren Vorgesetzten –, wie sie ihn beruhigen könnten.

Sie verließen mit S. die Dienststelle in Dresden und steuerten eine Gaststätte an. Das gefiel dem Neonazi, er wurde locker. Bei Kaffee und Cola begann er, zu erzählen. Über sich und über die braunen Musikmilieus. Am Nachmittag wurde die Plauderei unterbrochen, die Polizisten zahlten für S. die Rechnung mit – 90 D-Mark, einschließlich Trinkgeld. Das Treffen hatte sich für beide Seiten gelohnt.

So beginnt am 17. November 2000 ein bizarres Kapitel im schon hinreichend unruhigen Leben von Thomas S. Der sächsische Rechtsextremist, nur Tage zuvor 33 Jahre alt geworden, ist von nun an „Vertrauensperson“ des Berliner Landeskriminalamts. Bei dem Treffen erklärt er sich generell bereit, mit der Polizei zu kooperieren. Das passiert auch, mehr als zehn Jahre lang, bis zum Januar 2011. Dann wird S. vom LKA „abgeschaltet“, wie es im Amtsdeutsch der Sicherheitsbehörden heißt. Berlins Innensenator Frank Henkel wird sich vermutlich wünschen, die Polizei hätte S. nie eingeschaltet.

Seit vergangenem Donnerstag, als der Fall des V-Mannes Thomas S. bekannt wurde, steht Henkel enorm unter Druck. Mit dieser Geschichte hat der Terror des NSU Berlin erreicht – denn S. ist auch Beschuldigter im monströsen Ermittlungsverfahren der Bundesanwaltschaft zu den Verbrechen der Terrorgruppe Nationalsozialistischer Untergrund. Der Neonazi soll dem Trio schon 1997, bevor es abtauchte, Sprengstoff geliefert haben. Aber das erschien alles weit weg von Berlin, irgendwo in Thüringen und Sachsen.

Bildergalerie: Die Berliner V-Mann-Affäre

Die Stadt glaubte bis vergangene Woche, es gebe hier nichts zum Thema NSU. Henkel wusste es besser, seit März 2012. Doch der Christdemokrat informierte weder das Abgeordnetenhaus noch den NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestages. Der Senator sagt, er habe sich darauf verlassen, was Polizeichefin Margarete Koppers im März gesagt habe: Dass die Bundesanwaltschaft wünsche, Berlin bliebe verschwiegen, informiere auch nicht den Untersuchungsausschuss, damit Ermittlungen im Zusammenhang mit Thomas S. und dem NSU nicht gestört würden. Die Ankläger in Karlsruhe widersprechen. Henkel und Koppers stecken in einem Dilemma.

Das ist die eine, die politische Geschichte. Die andere ist die eines V-Mannes aus der Szene der Rechtsextremisten, der Rassisten. In die Schattenwelt der Spitzel bekommt die Öffentlichkeit üblicherweise keinen Einblick. Der Fall Thomas S. wird eine Ausnahme, weil er auch eine politische Dimension erreicht hat – und der Druck zur Aufklärung wächst. Es gibt nun die seltene Gelegenheit, in Recherchen und bei Gesprächen mit anonymen Fachleuten, Details einer problematischen, gleichwohl notwendig erscheinenden Verbindung von Staat und V-Mann, von Behörde und Kameradenverräter, zu erfahren. Der Fall Thomas S. könnte sogar eine exemplarische Geschichte sein.

"Ruf Mutti an" - das war das geheime Stichwort für den Spitzel.

Nach der Werbung im November 2000 registriert das Berliner LKA den sächsischen Neonazi als „VP 562“. Ein Kriminaloberkommissar wird sein V-Mann-Führer und instruiert S., wie er konspirativ Kontakt halten soll. Der Rechtsextremist bekommt eine Handykarte auf einen falschen Namen. Vor einem Anruf beim LKA soll S. eine SMS schicken, „Ruf Mutti an“. Dann soll er in seinem Handy die ihm ausgehändigte Karte einlegen und die Nummer des VP-Führers wählen.

Aber warum will das Berliner LKA von einem Rechtsextremen aus dem nicht ganz so nahen Sachsen kontaktiert werden? Zumal das LKA Sachsen abrät, da gegen den vorbestraften S., Ex-Mitglied von NPD und DVU und führende Figur bei der rechtsextremen Skinheadvereinigung „Blood & Honour“, weiter ermittelt wird? Anlass der Berliner, um S. zu werben, ist ein Verfahren, mit dem die Ermittler eine neue Phase der Ahndung brauner Umtriebe einleiten wollen.

Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik stufen sie eine Rechtsrockgruppe als kriminelle Vereinigung ein. Bundesanwaltschaft und LKA ermitteln gegen die Berliner Musiker von Landser, die sich konspirativ verhalten. Weil sie so geheimnisumwittert sind und ihre Texte als verbale Gewaltexzesse inszenieren – in einem Song wird die Vergiftung aller Bewohner Kreuzbergs mit 100 000 Litern Strychnin propagiert – gelten sie in der Szene als Halbgötter. Thomas S. ist im Umfeld von Landser aktiv, aber er ist gegenüber Ermittlern gesprächsbereit – weshalb auch die Bundesanwaltschaft die Werbung durch das LKA begleitet und davon profitiert. Vielleicht ist S. auch, zumindest nach eigenen Maßstäben, kooperativ, auch gegenüber sächsischen Staatsanwaltschaften, weil er sich offenbar nicht zum ersten Mal mit Behörden einlässt.

Bildergalerie: Die Berliner V-Mann-Affäre

In der DDR, so lautet eine Vermutung in Sicherheitskreisen, sei S. ein IM gewesen, ein inoffizieller Mitarbeiter der Stasi oder der Kriminalpolizei. Es gebe den Verdacht, S. sei als Spitzel auf Fußballfans angesetzt gewesen. Die Behörden der DDR hatten mit randalierenden Anhängern von Vereinen wie Dynamo Dresden große Probleme, außerdem tendierte ein Teil der Szene zum Rechtsextremismus. Thomas S. hatte Kontakte zu Hooligans, vielleicht war er damals selbst einer. Doch Jahre später, bei einer Sicherheitsüberprüfung 2009, kommt der Verfassungsschutz zu dem Ergebnis, Thomas S. könnte seine inoffizielle Mitarbeit für die Stasi gar nicht bekannt gewesen sein. Das klingt nicht nur mysteriös, es wird auch nicht weiter erklärt.

Härter ist allerdings, was weder der Verfassungsschutz 2009 noch der VP-Führer vom Berliner Landeskriminalamt im Jahr 2000 wussten. Thomas S. hat offenbar nicht nur Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe, die auch mal seine Freundin war, 1997 mit Sprengstoff versorgt. Der Mann soll dem Trio auch dabei geholfen haben, in den Untergrund abzutauchen, bei der Suche nach einem Versteck. Davon hat S. seinem VP-Führer offenbar nie etwas erzählt. Der Beamte schwärmt noch im März 2012 in einer Stellungnahme zum Fall S., die VP 562 habe „äußerst zuverlässig“ gearbeitet. Die Angaben des Spitzels hätten sich regelmäßig als wahr herausgestellt. Der Kriminalhauptkommissar sagt allerdings nichts dazu, dass Thomas S. in einem Hinweis, der wegen der Erwähnung des Terrortrios als besonders brisant gilt, nur die halbe Wahrheit von sich gab.

Am 13. Februar 2002 berichtet Thomas S. in einem Lokal nahe Dresden nur beiläufig, der Neonazi Jan W. solle Kontakt haben zu drei Personen aus Thüringen, die per Haftbefehl gesucht würden. Thomas S. behauptet, er wisse die Namen der drei nicht. Aber ihm sei bekannt, dass diese Personen „wegen Waffen und Sprengstoff“ gesucht würden. Dann erzählt er von Landser-CDs, T-Shirts und einem Rechtsrockkonzert in Chemnitz. VP 562 hat, vielleicht aus Angst in einen Terrorfall gezogen zu werden, seinen VP-Führer getäuscht. Der ahnt nichts. Für die beim Treffen konsumierten Speisen und Getränke zahlt der Beamte 50 Euro, mit Trinkgeld.

Die V-Mann-Führer scheinen ihren Spitzel sympathisch gefunden zu haben.

Bei weiteren vier Hinweisen, die einen Bezug zum NSU-Umfeld haben, äußert sich S. zum Trio selbst mit keiner Silbe. Aber er erzählt viel über andere Neonazis, vor allem über die Musikszene. Das LKA setzt ihn auf den deutschen Ableger der international aktiven „Hammerskins“ an, er wird für Recherchen im Internet eingespannt und erhält dafür 200 Euro. Thomas S. hat im Netz mehrere tausend Adressen ausfindig gemacht und damit dem LKA geholfen, ein Lagebild über den Rechtsextremismus zu erstellen. Das Geld bekommt S. bar auf die Hand, gegen Quittung. In der steht aber nicht, wer gezahlt hat.

Obwohl das Landser-Verfahren im Dezember 2003 endet – das Kammergericht bewertet die Band als kriminelle Vereinigung und verurteilt drei Musiker – bleibt S. für das LKA interessant. Im August 2005 tritt ein neuer VP-Führer an den Rechtsextremisten heran und bittet ihn, vor der Fußballweltmeisterschaft 2006 in Deutschland „Strukturen und Planungen“ von Hooligans zu erforschen. Thomas S. erhält 300 Euro für Fahrtkosten, Telefonate und weitere Auslagen. So geht das über Monate, bis zur WM.

Bildergalerie: Die Berliner V-Mann-Affäre

Immer wieder zahlt das LKA kleinere und mittlere Summen. Obwohl die Behörde, wie ein Vermerk von 2012 nahe legt, selbst so klamm ist, dass die Beamten der „VP-Führung-Staatsschutz“ am Anfang des vergangenen Jahrzehnts nicht mal über einen Computer verfügen. Und deshalb eine „eigene Aktenhaltung“ fehlt. Außerdem ordnet der damalige LKA Chef Peter-Michael Haeberer an, keine Unterlagen an die zentrale VP-Führung Geheimschutz zu übersenden. Die Konsequenz: Dokumente sind heute weg. Das passt zum Eingeständnis der Polizei von vergangener Woche, es lasse sich in den noch vorhandenen Akten nichts finden, was auf eine Weitergabe der Informationen von S. zum NSU-Umfeld an die Polizei in Thüringen schließen lässt.

Die V-Mann-Führer scheinen ihren Spitzel halbwegs sympathisch gefunden zu haben. Vielleicht hatten sie auch Mitleid, obwohl gegen Thomas S. schon vor der Werbung mehr als ein Dutzend Strafverfahren geführt wurden – wegen gefährlicher Körperverletzung, vorsätzlicher Brandstiftung, Verwenden von NS-Kennzeichen, Raubüberfällen und weiterer Delikte. Außerdem wird S. noch 2005 vom Landgericht Dresden wegen Volksverhetzung verurteilt. Doch die Beamten kommen ihrer Fürsorgepflicht nach. Thomas S. wird 2004 sogar zum Arbeitsamt begleitet, als er einen Job sucht.

Bei 38 Treffen haben die VP-Führer Thomas S. „abgeschöpft“. Und bei unzähligen Telefonaten erfuhr das LKA auch, wo ein Neonazi-Konzert stattfinden könnte, wo eine Demo geplant sei oder bei welchem Fußballspiel im Osten „was abgehen“ soll. Der Kontakt endete, als das LKA die VP 562 für nicht mehr ergiebig hielt. Thomas S., heute 44, schien sich von der rechtsextremen Szene zu entfernen. Da lockte dann auch das Berliner Geld nicht mehr.

Sollten Neonazis jetzt Thomas S. mit Rache drohen, wird das LKA ihn beschützen. Auch wenn es teuer werden könnte.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false