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Ein Mann schwenkt eine tschechische Flagge bei einer Demonstration gegen Premierminister Andrej Babis.

© Michal Cizek / AFP

Der falsche Blick des Westens: In Osteuropa steht es besser um die Demokratie, als viele glauben

Es scheint, als hätten autoritäre Populisten leichtes Spiel in Mittel- und Osteuropa. Doch von dort kommt ein Strom guter Nachrichten. Eine Kolumne.

Eine Kolumne von Harald Schumann

In Ungarn regiert ein autoritärer Demagoge, der seine Wähler mit rassistischen Parolen gegen fiktive Flüchtlinge aufwiegelt. Rumänien hat eine Regierung, deren wichtigstes Ziel es ist, ihre korrupten Funktionäre vor Bestrafung zu schützen. Der tschechische Ministerpräsident hat EU-Fördergelder illegal in die eigenen Firmen gelenkt und entzieht sich der Kontrolle seiner Geschäfte.

In Polen sind Nationalisten an der Macht, die keine unabhängige Justiz dulden und die Verfassung nicht achten. Und jenseits der EU-Grenzen regieren kriminelle Oligarchen in der Ukraine, Moldawien, Serbien und Montenegro. Über allem thront Zaren-gleich Russlands ewiger Präsident, dem kein Mittel zu schmutzig ist, um sich und seine Clique an der Macht zu halten.

30 Jahre nach der Befreiung vom sowjetischen Joch steht es in den Ländern des einstigen Ostblocks schlecht um Demokratie und Rechtsstaat. Die Erben der autoritären Parteidiktaturen, so scheint es, haben es nicht so mit den Grundwerten des vereinten Europas. Darum haben autoritäre Populisten und skrupellose Geschäftemacher leichtes Spiel. So in etwa lautet die im Westen gängige Erzählung vom postkommunistischen Mittel- und Osteuropa. Aber sie ist falsch. Denn sie unterstellt, die Menschen dort wollten es nicht anders, weil sie es eben nicht besser gelernt hätten. Das gilt allenfalls für den – noch – herrschenden Teil der Eliten in Parteien und staatsnahen Unternehmen. Viele Millionen Bürger wissen es indes längst besser – und bescheren Europa in diesem Jahr einen lange ersehnten Strom von guten Nachrichten.

Das begann im März in der Slowakei. Nach dem Mafia-Mord an dem Recherche-Journalisten Jan Kuciak im Vorjahr begehrten die Slowaken auf und wählten mit Zuzana Caputova überraschend eine Aktivistin gegen die Korruption ins Präsidentenamt, die sich auch offen gegen die anti-liberalen Übergriffe von Viktor Orban im Nachbarland Ungarn stellt.

Im Juni dann zeigten die Tschechen, dass sie ihren illegaler Subventionsgeschäfte beschuldigten Regierungschef Andreij Babis nicht dulden. Zuletzt forderten mehr als eine Viertelmillion Menschen auf den Straßen Prags seinen Rücktritt. Gemessen an der Bevölkerungszahl entsprach das zwei Millionen Demonstranten in Deutschland. Babis hielt sich über die Sommerpause noch im Amt, doch die Aktivisten kündigten an, im Herbst mit aller Kraft die Machtprobe fortzusetzen.

Front gegen Korruption

In der vergangenen Woche folgten die Rumänen dem tschechischen Beispiel und machten zu Zigtausenden Front gegen die von Korruption durchdrungene Regierungspartei. Nicht zuletzt, weil die vielen vor Armut und Misswirtschaft geflohenen Auslandsrumänen für eine demokratische, rechtsstaatliche Wende in ihrer Heimat mobil machen.

In der Ukraine haben die Bürger den Komiker Wladimir Zelensky zum Präsidenten gewählt.
In der Ukraine haben die Bürger den Komiker Wladimir Zelensky zum Präsidenten gewählt.

© Ozan Kose / AFP

Auch jenseits der EU-Grenze ist der Wille zur Demokratie höchst lebendig. In Serbien verzeichnen die Aktivisten gegen das Regime des Autokraten Alexander Vucic seit mehr als einem Jahr wachsenden Zulauf. In Albanien stehen die Bürger jeden Monat zu Tausenden gegen ihren Ministerpräsidenten auf, den sie des Wahlbetrugs bezichtigen. In der Ukraine wählten die Bürger den Komiker Wladimir Selenskyj zum Präsidenten – nicht weil er kompetent ist, sondern weil er zumindest für einen Neuanfang gegen den oligarchisch regierten Apparat steht.

Putin stößt an seine Grenzen

Nun passiert es sogar in Russland. Trotz Polizeigewalt und willkürlicher Verhaftungen marschierten am Wochenende erneut 50.000 Moskauer gegen ihren unfähigen Präsidenten und forderten faire und freie Wahlen. Erstmals stößt Putins Regime an die Grenzen der Repression und verliert auf breiter Front an Zustimmung.

All das zeigt: Es gibt keine quasi naturgemäße Spaltung in Europa zwischen dem autoritären Osten und dem demokratisch gefestigten Westen. Letzteres steht mit dem Aufstieg des italienischen Krypto-Faschisten Matteo Salvini ohnehin in Frage.

Natürlich ist keineswegs sicher, dass sich die Aktivisten von Moskau bis Tirana durchsetzen werden. Umso dringender gilt es, die überhebliche Ignoranz vieler Westeuropäer gegenüber den Kämpfen ihrer östlichen Nachbarn um wirtschaftliche Teilhabe und Demokratie zu überwinden. Offensiv und erkennbar sollte sie sich auf die Seite derer stellen, die dort gegen den Machtmissbrauch ihrer Regenten angehen, um ihre demokratischen Rechte zu sichern.

Demokratie ist kein Zustand, sondern ein Prozess und muss immer wieder neu erkämpft werden. Das gilt im Osten genauso wie im Westen.

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