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Politik: Der frühere DDR-Staatsratsvorsitzende will nicht wegen der Mauertoten für sechs Jahre hinter Gitter

Die Hauptperson wirkt fahrig und nervös. Als Egon Krenz am Mittwochmorgen den Saal 115 des Leipziger Landgerichts betritt, sucht er zunächst mühsam seinen Platz auf der Anklagebank.

Die Hauptperson wirkt fahrig und nervös. Als Egon Krenz am Mittwochmorgen den Saal 115 des Leipziger Landgerichts betritt, sucht er zunächst mühsam seinen Platz auf der Anklagebank. Der 62-Jährige sieht müde und gestresst aus, Kameras belagern ihn. Was er denn erreichen wolle, wird der frühere DDR-Staatsratsvorsitzende gefragt. "Ich möchte gern Recht haben", lautet seine Antwort. Was tut er, wenn das Urteil gegen ihn ausfällt? "Zu Spekulationen will ich mich nicht äußern." Ob die vergangenen zehn Jahre schwierig für ihn gewesen seien? "Ja, aber der heutige Tag ist der Beginn eines gewissen Abschlusses", sagt Krenz leise.

An diesem Mittwoch kämpft der Honecker-Nachfolger vor dem in Leipzig tagenden 5. Senat des Bundesgerichtshofs um Wiedergutmachung. Er will erreichen, dass ein Urteil des Berliner Landgerichts von 1997 aufgehoben wird. Damals war er zu sechseinhalb Jahren Haft verurteilt worden, die ehemaligen Politbüromitglieder Günter Schabowski und Günther Kleiber zu je drei Jahren. Ihnen werden vier Todesfälle an der Berliner Mauer angelastet. Im Politbüro hätten die drei Angeklagten Beschlüsse mitgetragen, die sich als Schießbefehle an der Grenze ausgewirkt hätten. Für Krenz gelte das in besonderer Weise: Er saß im "Nationalen Verteidigungsrat", dem höchsten Gremium für die nationale Sicherheit der DDR.

Mit dem Urteil von 1997 sind alle Seiten unzufrieden. Die Angeklagten meinen, sie müssten freigesprochen werden. Die Bundesanwaltschaft will die Revision, weil das Strafmaß in allen drei Fällen zu niedrig ausgefallen sei. Für Krenz geht es um noch mehr: Er sieht sich in die Rolle des Sündenbocks gedrängt und will sich nicht "als Totschläger abstempeln lassen", wie er betont. Immerhin steht der ehemalige SED-Chef in Leipzig nicht ganz allein. Etwa 60 Getreue aus alten Tagen, überwiegend ergraute Herren, sind als Zuhörer erschienen. Auch der frühere Verteidigungsminister Heinz Keßler, ein gebrechlicher Mann mit Krückstock und Blindenbinde, der seine Strafe schon abgesessen hat, ist gekommen, außerdem der frühere Vize-Kulturminister Klaus Höpcke und Oskar Fischer, ehemaliger DDR-Außenminister. Einige Anhänger überreichen Krenz zu Beginn einen Strauß roter Nelken, und der so Beschenkte lächelt kurz - das einzige Mal an diesem Tag.

Das Gericht schildert zunächst, welche Fälle den drei SED-Funktionären angelastet werden. Michael Horst Schmidt, Michael Bittner, Lutz Schmidt und Chris Gueffroy haben jeweils 1984, 1986, 1987 und 1989 versucht, mit Leitern und Wurfankern über die Berliner Mauer in den Westen zu kommen. In drei Fällen haben Grenzsoldaten die Flüchtlinge mit Dauerfeuer aus ihren Gewehren hingerichtet. Michael Horst Schmidt ist erschossen worden, als sein Fluchtversuch schon gescheitert war und er von der Mauer wieder auf die Ostseite heruntergefallen war. Die Bundesanwaltschaft sieht eine Mitverantwortung der Angeklagten und zitiert mehrere Beschlüsse des Politbüros und des "Nationalen Verteidigungsrates" aus jenen Jahren, in denen der Schutz der DDR-Westgrenze noch einmal deutlich unterstrichen worden war.

Doch reichen solche Beschlüsse aus, die Mittäterschaft der Angeklagten zu belegen? Die Anwälte von Krenz, Schabowski und Kleiber säen in Leipzig Zweifel. So habe es eine "offizielle Befehlslage" gegeben, nach der Schüsse nur auf die Beine von Flüchtlingen zulässig gewesen seien - und das nur nach vorheriger Warnung und nach Warnschüssen. Offenkundig hätten sich die Grenzsoldaten an diese offizielle Weisung nicht gehalten. Außerdem sei es in manchen Beschlüssen der SED-Führungsgremien nur um "die landschaftsgärtnerische Gestaltung des Grenzstreifens" gegangen, und nicht etwa um einen Schießbefehl, meint Krenz-Anwalt Dieter Wissgott.

Kleibers Verteidiger meint sogar, sein Mandant sei lediglich "als Wirtschaftsfachmann in einen totalitären Machtapparat eingebunden" gewesen und habe gar nicht genau gewusst, für welche Beschlüsse er die Hand gehoben habe. Auch Schabowskis Rechtsbeistand rückt vom Angeklagten Krenz ab. Der ehemalige Berliner SED-Bezirkschef habe mit Sicherheitsfragen kaum etwas zu tun gehabt, zeige inzwischen Reue und werde von früheren Kommunisten als "Schwein und Ratte" beschimpft. Kleiber und Schabowski sind - anders als Krenz - an diesem Tag nicht nach Leipzig gefahren. Auch die Angehörigen der Maueropfer als Nebenkläger fehlen.

Erwartungsgemäß nutzt Krenz sein Forum vor Gericht für längere Ausführungen. Man dürfe die Verantwortung für die Mauertoten "nicht auf ein paar Grenzsoldaten und Politbüromitglieder reduzieren". Schließlich habe sich der Eiserne Vorhang als Zeichen des Kalten Krieges quer durch Europa gezogen. Wenn er, der sich als Wegbereiter der DDR-Grenzöffnung sieht, ausgerechnet zehn Jahre nach der Wende ins Gefängnis komme, so sei das "Geschichtsklitterung", schimpft Krenz. "Man hält mich doch sowieso für einen Betonkopf", meint er und fügt hinzu: "Aber lieber Betonkopf als Weichei." Der Bundesgerichtshof will sein Urteil am 8. November sprechen - einen Tag vor dem zehnten Jahrestag der Maueröffnung.

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