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Politik: Der gläserne Riese - Ein Bericht über das Lauschen bei Kohl

Den Tag, an dem die DDR-Staatssicherheit Helmut Kohl letztmals belauschte, vergisst Major T. nie.

Den Tag, an dem die DDR-Staatssicherheit Helmut Kohl letztmals belauschte, vergisst Major T. nie. Es war der 5. Dezember 1989. In der Abhörzentrale Berlin-Köpenick herrschte Panik. 24 Stunden zuvor hatte die Hauptabteilung III (HA III) ein Telefonat zwischen dem Bonner Innenminister Wolfgang Schäuble und DDR-Devisenbeschaffer Alexander Schalck-Golodkowski mitgehört. Dessen Hilferuf an den westdeutschen Verhandlungspartner fasst T. in der Erinnerung so zusammmen: "Hier brennt die Luft. Ich komme mal!" Spätestens mit dieser Fluchtankündigung wusste die "Diensteinheit des funkelektronischen Kampfes" (Eloka) definitiv: Das Ende naht. Die Tonbänder der demoralisierten Truppe liefen noch. Über Ticker kamen weiter meterweise Fernschreiben von den 45 Stützpunkten herein. Aber die aufgefangenen Gespräche interessierten niemanden mehr.

Nach außen operierte die 2400 Köpfe starke HA III unter der Bezeichnung "Institut für Technische Unterstützung". Für eine Einrichtung zur Überwachung "von Funknetzen und Nachrichtenverbindungen der Nato-Staaten" war die Tarnung nicht schlecht erfunden: Zugang zum "Zentralobjekt Wuhlheide" nur mit MfS-Ausweis und Sonderstempel. Wachleute patrouillierten am Zaun. Drinnen hütete im vierten Stock, direkt unter dem Operativen Lagezentrum, Hauptmann Uwe B. die aktuellen Abhörprotokolle zur besonders umsorgten Zielperson Kohl. Die Papiere kamen in Hängemappen. T.breitet zur Verdeutlichung die Arme aus: Die Schränke seien voller Material gewesen, in Metern könne er es nicht sagen. Ältere Dossiers wanderten in die Kellerablage. Da kam einiges zusammen. Für die Stasi verwandelte sich mit jeder Seite der schwarze in einen gläsernen Riesen, nah genug war sie am Christdemokraten dran.

Im Auftrag von Markus Wolfs Hauptverwaltung Aufklärung (HVA) hatten die Elektroniker den Kabinettschef, "Streng geheim!", in ihr dichtes Überwachungsnetz eingesponnen. "Auf 25 bis 30 Seiten pro Woche" schätzt ein Beteiligter im Rückblick das Lauschergebnis zu "Kohl, Helmut, Bundeskanzler der BRD", wie er in der Akte heißt. Allein von 1982 bis 1989 wären das sagenhafte 9000 Blatt Minimum. Die Zahl halten Insider für "absolut realistisch". Beim aufstrebenden Mainzer Politiker hörte die Stasi jedoch schon in der Ministerpräsidenten-Zeit zu; "Beginn 1975", weiß T. und ergänzt lapidar: "Es gab umfangreichere Vorgänge."

Am 16. Januar 1984 modifizierten die Hauptleute B. und L., intern nur "der kleine L.", den Helmt Kohl betreffenden Zielkontrollauftrag: "Informationsbedarf: alle anfallende Gespräche". Zwar scherten sich die Offiziere dabei nicht um grammatikalisch korrekten Satzbau. Der knappstmöglich gehaltene Befehl lief auf eine totale Kontrolle des für seine Telefonitis bekannten Politikers hinaus; nicht umsonst porträtierten Journalisten Kohl als begnadeten Strippenzieher. "Das Kanzleramt war für uns absolut offen", rekapituliert ein Ohrenzeuge. Einschlägige Bonner Rufnummern kann er im Schlaf herunterbeten. Vom engeren Zirkel hatte man nach seiner Schilderung "im Großen und Ganzen vielleicht 30 Telefone" ausgewählt, darunter zahlreiche Privatanschlüsse und routinemäßig die Einwahlnummer zur Regierungszentrale. Von außen ein abgeschotteter Bau, in den keine Maus hineinkam, für die 598 Kilometer Luftlinie ferne DDR-Aufklärung indes ein transparentes Gehäuse. Allem voran "bearbeiteten" die Funk-Kader im Rahmen des großen Lauschangriffs selbstverständlich des Kanzlers eigenen Apparat. Stasi-Mitarbeiter U., in Mielkes Reich unter 6 66 23 zu erreichen, tippte Kohls Anschluss mit der Schreibmaschine (übrigens Modell IBM-Kugelkopf) akkurat in das Formblatt ein: "Ortsnetzkennzahl 02 28", im Kästchen dahinter "56-20 02".

Der CDU-Star amtierte gerade mal zwei Monate, da erging am 15. Dezember 1982 durch Mitarbeiter B. aus dem so genannten "Deliktbereich Politik" bereits der Befehl, sich beim "Privatanschluss ... im Kanzlerbungalow" einzuklinken: Bonn, 56 22 89. Anforderung unter anderem: "Interna aus Kreisen der BRD-Regierung", "Hinweise zur Person Kohl", "Meinungen zu Politikern aller Parteien", "geplante Vorgehensweisen des Kohl im Rahmen seiner Regierungs- und Parteifunktionen". Ferner interessierten "Hinweise zu gegen die soz. Staaten gerichtete Aktivitäten", und man erhoffte sich Aufschluss über "Haltungen innerhalb des Regierungskabinettes". Schwungvoll unterzeichnete Gerd Kahnt vom Bereich A, Zentrale Auswertung, den Auftrag.

Der spätere Oberst Kahnt legte 1986 eine unglaublich langweilige Abschlussarbeit an der Stasi-Hochschule Potsdam vor. Thema: "Die Organisierung spezifischer Methoden der Informationsgewinnung zur Aufdeckung und Verhinderung der Nutzung des grenzüberschreitenden Nachrichtenverkehrs als Verbindungsmittel durch gegnerische Geheimdienste". Die 50-seitige "Geheime Verschlußsache / Persönlich" soll es angeblich nur in einem Exemplar geben. Es wäre ein Exemplar zu viel. Gemeinsam mit Major Jürgen Hilbert verfasst, bietet die Schrift Phrasen wie diese: "Mit der automatisierten Informationsgewinnung wurde ein Instrument geschaffen, das eine scharfe Waffe im Kampf gegen den Feind darstellt." Sie trage "in bedeutendem Maße zur bedarfs- und zeitgerechten Informierung der Partei- und Staatsführung ... bei." Mit nahezu "100%iger Sicherheit" seien alle im Zielkontrollspeicher befindlichen Anschlüsse zu überwachen und zu dokumentieren. Im Schlusssatz versichern die Autoren, das Werk "selbständig und ohne unerlaubte Hilfe angefertigt" zu haben. Das glaubt man sofort.

Wenn Helmut Kohl auf ihrer Agenda stand, galt für die Beschaffer in der Regel "Bearbeitungs- und Weiterleitungskategorie 2". Das bedeutete, die gewonnenen Informationen waren binnen 24 Stunden im Wortlaut vorzulegen. In heiklen Fällen mit Bandkonserve. Kategorie 1 hieß "Sofort!", brachte laut einem Mitarbeiter "Wahnsinnsstress", verlangte wörtliche Aufbereitung und fernschriftliche Übermittlung innerhalb von drei Stunden. Fielen Top-News an, bretterte Genosse T. im Lada aus den Ferien in Ungarn nach Wuhlheide zurück. Das sei mehrfach vorgekommen. "Einser-Meldungen" hagelte es im Sommer 1987 bei der Vorbereitung der Honecker-Reise nach Bonn. Da schnappte man jeden Schnaufer von Kohl begierig auf. Bundestagswahlkämpfe und Reisen von Bonnern nach Moskau erhöhten den Druck von oben auf die Lauscher. "Alles spielte verrückt." Die Mannschaften wurden verstärkt, zeitweise galt Urlaubssperre. Generalmajor Horst Männchen, der Boss der HA III, meldete jedes Detail im "Operationsgebiet", also der BRD, mit Vorrang Richtung Mielke. Untergebene schildern den (seit einem Unfall) einarmigen General als unangenehm-rechthaberischen Vorgesetzten. Gängiger Kasinojargon: "ein Kotzbrocken".

Im Normalbetrieb flossen die Kohl-Mitschnitte in so genannte "G"-Informationen ein, Tenor: "Die Woche des Kanzlers". "G" war das Kürzel für das Zusammenschreiben mehrerer Telefonate. Stand "A" auf dem Bericht, handelte es sich um ein einzelnes Gespräch. Experte T. erklärt uns die Methode auf einem Bänkchen am Berliner Gendarmenmarkt im Angesicht des Schiller-Denkmals. Vielleicht denkt der studierte Geheimdienstler an eine Szene aus Schillers "Räubern": "Es wird Nacht, und der Hauptmann noch nicht da!" Reflexartig blickt sich T. beim Treff nach Observateuren um.

Bei der Hauptverwaltung Aufklärung lauerte insbesondere Oberst Kurt Gailat begierig auf Berichte aus Bonn. Von dem hoch dekorierten Überzeugungstäter, im Mitteltrakt an der Ruschestraße stationiert, geht das Gerücht, er habe SPD und CDU besser gekannt als deren eigene Vorsitzende. Der Jurist promovierte über die "politisch-operativen Aufgaben zur Förderung und Formierung fortschrittlich sozialer Kräfte und politischer Plattformen" am Beispiel West-Deutschlands. Bei der Rückkehr von Kanzlerspion Guillaume bildete er zusammen mit Markus Wolf ein nicht ganz geheures Empfangskomitee. In ostpreußischem Dialekt gab Gailat gern zum Besten, er wisse, was am nächsten Tag in Kohls Ministerien passieren würde. Meist stimmte es. Weniger gern erwähnte er sein Spitzengehalt, das bei 3800 Mark gelegen haben soll. Ihm zur Seite stand mit Genosse F. ein perfekter Kenner der Union; F. machte mit der Anwerbung des CDU-Abgeordneten Julius Steiner Geschichte. Nicht zu vergessen Major R. von der "Desinformation". Seit sein Wissen über die CDU nicht mehr gefragt ist, verkauft er Glühbirnen, kolportieren alte Kameraden.

Die Bonner wiegeln heute gern ab, dass des Kanzlers Telefon doch "elektronisch gesichert" gewesen sei. Major T., der im neuen Deutschland ein etwas vorwurfsvolles Gesicht spazieren trägt, lächelt milde: "Das höre ich heute zum ersten Mal. Für uns war das zugänglich." Einschränkend fügt er hinzu: "jedoch nicht, wenn Kohl mit dem US-Präsidenten telefonierte". Selbst wo Sprachverschleierer vor dem Abhören schützen sollten, knackte Mielkes kriminelle Vereinigung akustische Sperren oft mit Entschlüsselungsgeräten. Sinnigerweise stammten sie aus West-Produktion. Der ganze Ehrgeiz des MfS lief ohnehin nur darauf hinaus, Details zu Personen anzuschleppen, "die der Gegner besonders abschirmt ... bzw. die einer besonderen Sicherheitsstufe unterliegen". Schlussendlich verbanden so viele Kanäle die Lauscher mit ihrem Opfer Kohl, dass sie jede Nuance des dialektgefärbten Nuschelns von ihrem alten Bekannten auf der Tonspur hatten. Spätestens seit 1987 fielen außerdem sämtliche Autotelefone des Kohl-Kabinetts rund um die Uhr unter "Zielkontrolle".

Beispiel "WEBER, Juliane, Leiter des persönlichen Büros des Bundeskanzlers". Mit diesem verheißungsvollen Titel stand sie ganz oben auf der Stasi-Liste. Offizielle Fotos zeigten sie gern am überladenen Schreibtisch mit Telefon. Ob ihre dienstliche Durchwahlnummer 001 oder ihr Telefon daheim, Bonn 32 ... ., die HA III hing in der Leitung. Bei wem sonst wäre das Plansoll besser zu erfüllen gewesen, "in operativ-relevante Territorien" des verhassten Klassenfeindes einzudringen. Der Auftrag 11.015. vom 9. August 1984 beinhaltete, bei Frau Weber "Hinweise zur Gestaltung der Innen-, Außen- und Sicherheitspolitik gegenüber der DDR ..." abzuschöpfen, "interne Vorgänge im Bundeskanzleramt" zu ergattern. Erwünscht waren ferner "Angaben zum Privatbereich" und: "Kompromittierende Fakten". Die Stasi schloss in ihrer Hybris nicht aus, selbst die treueste Kohl-Anhängerin könnte sich für geheimdienstliche Anbahnung eignen. Das Ausspionieren der Regierungsdirektorin zielte gleichsam ins Herz der Macht. Parallel horchte die HA III bei Eduard Ackermann, Kohls männlichem Intimus. Status: "Leiter Abteilung Kommunikation und Dokumentation". Auch bei ihm sollten vom 10. Dezember 1984 an "Interna" und "Privatsphäre" abgeschöpft werden. "Bestätigt: J.", steht oben rechts auf der grauen Karteikarte, ein Bereichsleiter.

Die schiere Menge und die Dauer des Mithörens fügten sich zu einer ziemlich exakten Innenansicht des Systems Kohl. Bereits 1983 peilte man mit Zielkontrollauftrag 70359 den Staatsminister Philipp Jenninger an: "Wir hatten ihn immer", berichtet ein Beteiligter. Ebenso hing der erste Staatssekretär Waldemar Schreckenberger, Helmuts Schulfreund, an der unsichtbaren Kette der Stasi. Wegen seiner besonderen Kanzlernähe programmierten die Techniker die Nebenstelle 040 und die damalige Privatnumer 28 18 35 in die Suchmaschine. Ergänzend schaltete man sich bei "Schreckis" bevorzugten Telefonpartnern auf. Das letzte Band datiert vom September 1989. Übers Mithören sollten seine "Persönlichkeit" und seine "Stellung innerhalb der CDU und zum Vorsitzenden" ergründet werden. So erfuhr man auf der Stelle vom Zwist zwischen ihm und Ackermann.

Von Kohls "Umfeldpersonen" hatte die Stasi Professor König unter Kontrolle, Leiter der Abteilung III, Durchwahl 300. Der wichtige Helfer war zuständig für Strukturministerien wie Arbeit und Soziales. Bei Georg Grimm, Abteilung IV, Wirtschaft und Finanzen, hockte man dienstlich und privat in der Leitung. Vom Arbeitsstab Deutsche Politik schätzte die HA III besonders Hermann Freiherr Dr. von Richthofen hoch ein. Richthofen sei "einer der wichtigsten Leute" gewesen, habe mit darüber entschieden, "was der Kanzler auf dem Schreibtisch hat". Deshalb hörte man ihm zu. Vom Referat 221, zuständig für die DDR, kam Direktor Kaeslers Ruf 2244 in die Stasi-Datei. Selbst Kohls West-Berliner Maßschneider Volkmar Arnulf hatten die Profis von drüben drauf. Wenn die Drähte glühten, verlor die Stasi in ihrer dem Wahnsinn verwandten Sammelwut den Überblick und nahm selbst Nebenfiguren wie den Persönlichen Referenten Michael Lippert unglaublich wichtig. Bei alledem blieb Kohl immer Kohl und stand bis zum DDR-Untergang mit Klarname auf allen Top-Secret-Papieren.

Angezapft ist dann vielleicht ein zu harmloses Wort für die von der Abteilung III zur Perfektion getriebene Methode. Wie Schmarotzer am Wirtstier bedienten sich die "Dreier" beim Richtfunknetz der Bundespost, sei es in West-Berlin oder von da nach West-Deutschland. Ihre Rufnummern-Selektierungsanlagen, Kürzel RSA, überwachten Tag und Nacht bestimmte Fernmeldeanschlüsse automatisch, Spezialantennen fingen Wählimpulse auf, Erkennungsrechner ließen binnen Sekunden Tonbänder anspringen. Eine äußerst effektive Spionageart, zumal sie ohne jedes persönliche Risiko funktionierte. Bis zu 3000 Tonbandgeräte sollen in Betrieb gewesen sein. Besonders stolz war man darauf, sich live in Gespräche einzuschalten und unbemerkt in Echtzeit mithören zu können. So wenn Kohl seinen Diepgen sprach und mit einem dröhnenden "Morgen, Meister" überrollte.

Am international sortierten Equipment wurde nicht gespart. Die besten Empfänger stammten aus Ungarn, die guten Bandgeräte kamen von Uher. West-Ware auch die Computer-Innereien der Marke Siemens und die seit 1982 eingesetzten Kassetten. Die DDR selbst steuerte nur Nachbauten bei. Im modernsten ihrer Aufklärungsstützpunkte - "Quelle 1", Standort Rhinow, Höhe 95,7 - filterten 45 Leute die Dialoge von Kohl & Co aus der Datenmenge. Laut Inventarverzeichnis war schon das Hauptquartier Wuhlheide mit seinem 36 Meter hohen Antennenturm eine 106-Millionen-Investition. Eine bizarre Vorstellung, dass dort Männer und Frauen nach Dienstplan zwischen 7 Uhr 30 und 17 Uhr via Äther den Planeten Bonn ausforschten - um danach wieder in ihren Plattenbau heimzukehren.

Jeden Dienstag, 10 Uhr morgens, trafen sich die Eingeweihten im Zentralobjekt. Man rauchte "Club"-Zigaretten, Sekretärinnen kochten Kaffee. Zum harten Kern der Erleuchteten in Sachen Kohl zählten die schon erwähnten Hauptmänner L. und B., Oberleutnant M. stieß dazu, "ein kleines Licht", wie gesagt wird. Ferner die Offiziere Helga H., Marion H. und Frau M. Als wahrer Kanzler-Freak galt in diesem Kreis "der kleine L.", ein Ehrgeizling mit Ellbogen, nach Kollegen-Schilderung ungewöhnlich früh mit der Medaille für Waffenbrüderschaft geschmückt. Das Thema Kanzler sei für ihn eine Art Steckenpferd gewesen. Regelmäßig, so ein Teilnehmer, konferierte die Runde über den großen Bonner, beredete man Organisatorisches mit Abgesandten von Markus Wolfs Abteilung Gegenspionage. Als handele es sich um späte Rache des Abgehörten, musste einer aus dem Geheimzirkel nach der Wende bei der Mitropa kellnern und wurde auf der Route nach Budapest gesichtet. Der nächste versuchte sich mit einem Kiosk, und B. machte in Versicherungen. Alles nicht mehr das, was ihrem vormaligen Status entsprach.

Damals schafften handverlesene Kuriere die Abhörergebnisse zu Markus Wolf. Danach ging das Material an Spezialisten wie den besagten Oberst Gailat. Wer Dossiers in die Hand bekam, musste in einem Quittungsbuch unterschreiben, erklärt einer aus der Befehlskette. Selbst intern arbeitete man konspirativ, in den Dokumenten fehlt jeder Hinweis auf Lauschangriffe. Meist begannen die Berichte mit der Standard-Formel: "Zuverlässig wurden Hinweise bekannt ..."

Wo das ganze Kohl-Zeug abgeblieben ist? Kein echter "Dreier" glaubt im Ernst, das brisante Material sei anno'90 zerschnipseltund zu Brei zermanscht auf der Deponie Freienbrink gelandet. Aus HA III-Beständen warten im Zentralarchiv der Gauck-Behörde noch 332 laufende Meter unerschlossene Akten. Die Außenstellen der Behörde sind da gar nicht mitgerechnet. Es müsste mit dem Teufel zugehen, fände sich in dem Papierberg nichts über den flächendeckend ausgeschnüffelten Kanzler. Schon die jüngst vom Tagesspiegel publizierten Stasi-Abhör-Protokolle zu CDU-Schatzmeister Walther Leisler Kiep und dem Generalbevollmächtigten Uwe Lüthje boten Erhellendes zu den Geldgeschäften der Partei. Und was steht bei Kohl, so sich die meistgesuchten Stasi-Mitschnitte finden? Ein früherer Mielke-Mann gibt den Tipp, Wesentliches "auf dieser Strecke" sei an die Russen gegangen. "Da muss was sein." Die Kanzler-Dossiers hätten zudem "drei- bis vierfach" vorgelegen. In den Wende-Wirren, so der Insider, habe mancher Genosse Brisantes eingepackt und weggetragen. 1990 druckten Magazine erste Geschichten aus diesem Konvolut.

Mag der hypernervöse Kohl bereits vorbeugend die Authentizität solcher Mitschnitte in Zweifel ziehen. Damit sind die Geheimnisse der Dunkelmänner nicht zu bannen. Präzise regelte die "Rahmenordnung der Linie III" die "Gewinnung, Aufbereitung und Weiterleitung" des Gehörten. Wort für Wort tippten Horchposten ihre Aufzeichnungen ab. Im zweiten Durchlauf verglichen Kollegen das Gesprochene und das Geschriebene, überprüften Ton und Text. Aufbereiter und Kontrolleure finden sich mit ihrer Signatur auf dem jeweiligen Manuskript. Die Stützpunkte standen im Übrigen untereinander im Wettbewerb. Wer Infos von "Wertigkeit" herausfischte, bekam die erste Zuteilung neuer Technik. Auch ein Grund für Sorgfalt, zumal wenn man den dicken Mann vom Rhein im Ohr hatte. Probleme bei der Dokumentation ergaben sich eher durch katastrophale Rechtschreibung und die Tatsache, dass Bonn offensichtlich für die Schreibkräfte ein böhmisches Dorf war: In Telexen aus dem Stasi-Bestand "Kiep" ist häufig von einem "Herrn Kohl, vermutlich der CDU-Politiker" die Rede.

Auffallend, wie viele Abhörer 1990 die Nerven verloren und sich dem Hauptgegner andienten. In Köln beim Verfassungsschutz (BfV) sangen verdiente Stasi-Hardliner, als ginge es um ihr Leben. Dort klopfte mit Hauptmann L. just der vordem gerühmte Kanzler-Spezialist an. Dieser "kleine L." findet sich auf einer "Geheim" gestempelten Überläuferliste des Amtes vom 26. Februar 1991, Deckname "Häuserkampf". Irgendwie passend, dass L. heute mit Immobilien handeln soll. Beim BfV jedenfalls lachte Bargeld, andere von der HA III packten beim Bayerischen Landesamt oder den Amerikanern aus. Ihnen schleppte einer die 25 000 Zielkontrollaufträge zum Abfilmen in die Ost-Berliner Vertretung.

Ob in der Stasi-Szene noch Kohl-Abhörprotokolle existieren, fragen wir einen versierten Lauscher. Die schnelle Antwort: "Aber ganz sicher." Vielleicht wird die heiße Lausch-Ware demnächst angeboten. Branchenüblich am Telefon.

Jürgen Schreiber

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