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Politik: Der Herbst im Mai

ROT-GRÜN IN DER KRISE

Von Tissy Bruns

Wer regiert uns im nächsten Jahr? Edmund Stoiber ist sicher, dass der amtierende Bundeskanzler bis dahin nicht durchhält, und sieht Neuwahlen am Horizont. Verständlich bei einem, der so knapp die Kanzlerschaft verfehlt hat und auf diesem Weg doch noch Regierungschef werden könnte. Gerhard Schröder wird die Prognose seines ExHerausforderers deshalb als reines Wunschdenken abtun – nicht ohne seinerseits Wünsche zu hegen, die ins Reich der Träume gehören. Schröder hofft auf eine Zusammenarbeit mit der Union, seit die ihren Streit um die wichtigsten Fragen der Sozialreform beendet hat. Verwegen ist dabei nicht die Hoffnung auf Zusammenarbeit. Sondern die Vorstellung, CDU und CSU hätten es nötig, sie nach Schröders Bedingungen zu gestalten. Die Union muss nach ihren Beschlüssen nicht mehr fürchten, in die Blockade-Ecke gestellt zu werden. Sie kann warten. Und es ist nicht abwegig, dass die Schlacht im anderen Lager ihr unerwartete, sogar unerwünschte Optionen in die Hand spielt. Neuwahlen sind Stoibers Traum. Wahrscheinlicher ist, dass im nächsten Halbjahr ein ganz irdischer Zwang auf die Tagesordnung gerät: der zur großen Koalition, wenn die rot-grüne Koalition nicht mehr kann, was ihre Führung, was ihre Mehrheit eigentlich will.

Die beiden Christ-Parteien haben einen feinen Sinn für den rechten Ton zur rechten Zeit bewiesen. Ihre Einigung glänzt und strahlt wegen des Kontrasts zur rot-grünen Regierung. Während die Union geschlossen bereit steht, muss der Bundeskanzler in einen Kampfmonat um die eigenen Reihen starten. Regionalkonferenzen, Gespräche mit dem DGB-Chef, rot-grüne Rebellen-Treffen, der Sonderparteitag. Das Publikum sieht zu. Und staunt. Und wundert sich mit jedem Tag mehr. Denn es wird immer klarer, dass Schröder nicht um eine Mehrheit in der SPD kämpfen muss, sondern gegen eine Minderheit, die den Kanzler in den Schwitzkasten genommen hat. Dass der SPD-Chef den Sonderparteitag für sich gewinnen kann, scheint so sicher, wie die danach nötigen rot-grünen Parlamentsmehrheiten für die Sozialreform ungewiss bleiben. Die Vertrauensfrage, mit der Schröder den Parteitag überzeugen will, kann geradewegs in eine nächste und übernächste führen – dann aber im Bundestag. Denn für eine Hand voll Abgeordneter folgt aus dem prinzipiellen Bekenntnis zur Regierungsfähigkeit nicht zwingend ein Ja zum verkürzten Arbeitslosengeld oder zur Privatisierung von Gesundheitsleistungen. Man kann sich leicht vorstellen, dass wenigen SPD-Abgeordneten der vermeintliche Verrat an Gerechtigkeit und Sozialstaat schwerer fallen könnte als der Weg in die Opposition. Es wäre eine schleichende Erosion von Rot-Grün, wenn im Herbst bei jedem einzelnen Gesetz diese quälende Diskussion wieder geführt werden muss. Und ein Debakel, wenn der entstehende Zwang zu Kompromissen die Reformen vertagt oder in Reförmchen zerlegt.

Warum sollte das hingenommen werden, wenn offensichtlich die Mehrheiten vorhanden sind, um das Vorhaben Sozialreform endlich anzupacken? Bei allen Fragen nach dem Wie erwarten die Bürger die Lösungen jetzt, in dieser Legislaturperiode. Man kann sich die Augen reiben, wie in Deutschland immer noch über längst überfällige Schritte gestritten wird. Aber wahr ist auch: Es ist neu, dass sich die Volkspartei SPD mit ihrem Hang zur sozialen Romantik dazu durchgerungen hat, die Sozialsysteme zu stutzen, um sie zu retten. Es ist neu, dass die Volkspartei Union sich aus den Behäbigkeiten ihrer Regierungszeit löst.

Deshalb kann sich eine politische Dynamik entwickeln, wenn Minderheiten den Zug der Zeit aufhalten wollen. Politiker und ihre politischen Beobachter bilden sich gerne ein, Strategien planen und vordenken zu können. Doch die kühlsten Köpfe haben dabei schon große Überraschungen erlebt. Die SPD kann ein neues Stück Parteigeschichte einleiten. Vielleicht gelingt ihr eine große Wandlung wie die von der Arbeiter- zur Volkspartei. Kann aber auch sein, dass sie nur ein neues Kapitel darüber anfügt, wie sie mit ihren Kanzlern fertig wird. Helmut Schmidt war am Ende, als die Mehrheit der SPD seinen Kurs abgelehnt hat. Wenn Gerhard Schröder an einer kleinen, radikalen Minderheit scheitern sollte, dann stimmte es wirklich einmal, das Wort von der Ironie der Geschichte.

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