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Politik: Der jüngste Anrufer war acht Jahre alt

Missbrauchsbeauftragte zieht Zwischenbilanz / Gewalt fast immer „chronisch“

Berlin - Mit 17 Jahren fuhr der junge Athlet zu den Paralympics nach Peking. Der Sport, erzählt sein Vater Henning Stein, habe ihm geholfen, sich aus dem Geschehenen rauszuarbeiten. Zuvor war er, der körperbehinderte Junge, in einem renommierten Internat von einem anderen Schüler 16 Monate lang missbraucht und vergewaltigt worden. Mindestens 60 Mal.

Die Geschichte Steins steht exemplarisch für das, was die Anlaufstelle für Missbrauchsopfer, die die Beauftragte der Bundesregierung, Christine Bergmann, eingerichtet hat, nach den ersten sechs Monaten ihres Bestehens bilanzieren muss. 90 Prozent derjenigen, die sich an die Anlaufstelle gewandt haben, berichten von wiederkehrendem und mehrfachem Missbrauch. „Chronischen Missbrauch“ nennt das Professor Jörg Fegert, der die Arbeit mit einer wissenschaftlichen Studie begleitet hat.

Mehr als 8000 Anrufe und Briefe sind seit April hier eingegangen. Seit die Kampagne „Sprechen hilft“ im September gestartet wurde, melden sich deutlich mehr Opfer, Personen aus deren Umfeld und in wenigen Fällen auch Täter. Die Zahl hat sich verdoppelt. Und Bergmann, die frühere Familienministerin, zieht jetzt den Schluss, dass die Gesellschaft das Problem inzwischen wahr- und ernst nimmt. Sie warnt jedoch auch: „Das Thema darf nicht wieder verschwinden.“

Deshalb fordert Bergmann „Kontrollinstrumente“ zur Verhinderung künftiger Fälle. Ob die Stelle einer Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung dauerhaft eingerichtet werden soll, dazu will Bergmann erkennbar nichts sagen. Aber sie sei „der Meinung, dass es auf Bundes- oder Landesebene eine unabhängige Anlaufstelle geben muss“.

Der Runde Tisch der Bundesregierung zur Aufklärung des sexuellen Missbrauchs soll am kommenden Mittwoch, dem 1. Dezember, wieder tagen. Dann will das Gremium einen ersten gemeinsamen Zwischenbericht der Arbeitsgruppen vorlegen. Aus den Arbeitsgruppen erwartet Bergmann konkrete Vorschläge.

Nachdem sich zu Beginn der Arbeit viele Menschen bei Bergmanns Team gemeldet haben, die oft vor Jahrzehnten missbraucht worden waren, reden inzwischen auch mehr und mehr junge Menschen. Und während zunächst der Missbrauch in Institutionen im Vordergrund stand, rückt jetzt der Missbrauch in der Familie weiter in den Blickpunkt der Beratungsstelle. Der jüngste Anrufer war acht Jahre. Die Studie zeigt, dass Jungen eher in Institutionen (mit knapp 50 Prozent liegt hier die katholische Kirche an der Spitze) und Mädchen eher in der Familie missbraucht werden. Aber wo immer der Missbrauch stattfindet, konstatiert Henning Stein: „Die Mechanismen der Macht, mit denen der Missbrauch ausgeübt wird, sind gleich.“

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