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Ukrainische Soldaten bei einer Gefechtsübung in der Nähe von Mariupol in der Ost-Ukraine.

© IRINA GORBASYOVA/dpa

Der Konflikt in der Ukraine: Steht ein neuer Krieg bevor?

Kiew und Moskau rüsten verbal und militärisch auf. Die Sorge vor einem neuen Krieg wächst. Die wichtigsten Fragen und Antworten zu den aktuellen Entwicklungen.

Eine Eskalation der Propaganda ist oft die Vorstufe zum heißen Krieg. Das ist die traurige Erfahrung mit Russland, aber auch mit seinen Nachbarn, die den Westen für ihre Interessen einspannen wollen. In der Nacht zu Freitag trat der UN- Sicherheitsrat zu einer Dringlichkeitssitzung zusammen. Zuvor hatte Russland der Ukraine vorgeworfen, sie habe „Terror und Sabotage“ gegen die Krim begangen. Die Halbinsel gehört völkerrechtlich zur Ukraine, war von Russland jedoch im Februar 2014 in einer verdeckten Aktion durch Soldaten ohne Hoheitsabzeichen besetzt und später annektiert worden.

Die Ukraine wirft umgekehrt Russland vor, zehntausende Soldaten auf der Krim und an der Grenze zur Ostukraine aufmarschieren zu lassen, um einen neuen Krieg zu beginnen. Kurz nach der Annexion der Krim hatten von Russland unterstützte Separatisten in der Ostukraine einen Bürgerkrieg entfacht, um den Anschluss an Russland zu erzwingen.

Wie wahrscheinlich ist ein „heißer Krieg“?

Unabhängige Beobachter sehen weder Beweise für die behauptete „Sabotage“ gegen die Krim noch den angeblichen russischen Truppenaufmarsch. Einig sind sich die EU, die USA und die zur Befriedung in die Ukraine entsandten Mitarbeiter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) jedoch in ihrer Sorge vor einem neuen Krieg.

Einerseits ist nicht zu erkennen, was sich Russland oder die Ukraine von Krieg versprechen. Andererseits ist offenkundig, dass beide Seiten sich nicht bemühen, ihren Konflikt friedlich zu lösen. Der Waffenstillstand für die Ostukraine, der 2015 unter Vermittlung Deutschlands und Frankreichs in Minsk vereinbart worden war, wird immer brüchiger. Beide Seiten benutzen die angeblichen Aktionen der Gegenseite als Vorwand, um die zugesagten Schritte des Befriedungsplans nicht einzuhalten.

Diese Kompromisse sind unpopulär. Russland und die von ihm unterstützten Separatisten müssten die Ostukraine und die Grenze zu Russland am Ende wieder Kiews Kontrolle überlassen. Die Ukraine wiederum müsste den russisch dominierten Regionen eine gewisse Autonomie zugestehen und könnte die Kriegstreiber, die mindestens 9500 Tote und die Zerstörung vieler Städte und Dörfer zu verantworten haben, nicht bestrafen.

Nach den bisherigen Erfahrungen kann keine Seite hoffen, einen offenen Krieg zu gewinnen. Russland ist zwar militärisch überlegen und kann den Separatisten mit ausreichend Waffen und „freiwilligen Kämpfern“ beistehen, um deren Niederlage zu verhindern. Es kann aber seine militärische Überlegenheit nicht offen ausspielen, jedenfalls nicht zu vertretbaren innen- und außenpolitischen Kosten. Offiziell behauptet der Kreml, es handele sich um einen innerukrainischen Bürgerkrieg, mit dem Russland nichts zu tun habe. Ein Krieg gegen slawische Brüder ist unpopulär. Und die Soldatenmütter würden wieder protestieren, wenn ihre Söhne in Särgen heimkehren.

In dieser Konstellation ist die Ukraine gerade stark genug, um neue Angriffe abzuwehren. Ihre Kräfte reichen aber nicht für entscheidende Geländegewinne.

Bestenfalls kann jede Seite hoffen, dem Gegner in Kämpfen deutlich zu machen, dass sie sich nicht zu unpopulären Zugeständnissen zwingen lässt, selbst wenn sie diese im Minsker Abkommen längst zugestanden hat. Das bedeutet eine Verlängerung der hoffnungslosen Lage in der Ostukraine.

Warum eine Eskalation jetzt?

Der August ist ein besonders konfliktträchtiger Monat – auch weil die Initiatoren einer Eskalation darauf hoffen, dass die Gegenseite durch Ferien oder andere Ereignisse abgelenkt ist und nicht sofort mit voller Kraft reagieren kann. Der Putsch gegen Michail Gorbatschow 1991 begann am 19. August, während Gorbatschow Urlaub auf der Krim machte. Georgiens Staatschef Michail Saakaschwili nutzte 2008 den Beginn der Olympischen Spiele und Wladimir Putins Reise nach Peking zu deren Eröffnung für seinen Versuch, das russisch besetzte Südossetien, das offiziell Teil Georgiens ist, zurückzuerobern. Der August-Krieg endete mit Georgiens Niederlage.

Den zeitlichen Zusammenhang mit Olympischen Spielen darf man in Putins Fall psychologisch nicht unterschätzen. Er fühlte sich 2008 in Peking von Georgien herausgefordert und reagierte entsprechend hart. 2014 war er selbst Gastgeber der Winter-Olympiade und musste tatenlos zusehen, wie sein politischer Einfluss auf die Ukraine durch die Straßenproteste gegen seinen Schützling Viktor Janukowitsch und dessen Sturz schwand. Er sah darin ein Komplott des Westens. Hätte er sofort eingegriffen, hätte das zu einem Boykott „seiner“ Winterspiele führen können: ein Prestigeverlust. Nichteingreifen bedeutete Verzicht auf die Kontrolle der Ukraine. Putin rächte sich, sobald die Spiele zu Ende waren, mit der Annexion der Krim und dem Krieg in der Ostukraine.

Jetzt kann er den Spieß umdrehen. Auf die Olympischen Spiele in Brasilien muss er nicht Rücksicht nehmen. Die meisten russischen Athleten sind wegen Dopingverdacht ausgeschlossen. Er mag umgekehrt hoffen, dass der Westen abgelenkt ist durch die Spiele.

Dann ist da noch der weitere Fahrplan des Friedensprozesses für die Ukraine. In drei Wochen sollen die Gespräche am Rande des G-20-Gipfels in China fortgesetzt werden. Wer verhindern will, dass sie zu dem unpopulären Ausgang, siehe oben, führen, beginnt jetzt mit dem Sperrfeuer.

Auch die Ukraine hat da ihre Interessen. Sie will die Krim nicht stillschweigend Russland überlassen. Sie befürchtet, dass die Vermittler nach Jahren zäher Verhandlungen über die Ostukraine so zermürbt sein werden, dass alle froh sind, wenn dort endlich Ruhe einkehrt, und niemand sich dann noch mit der illegalen Annexion der Krim befassen möchte. Vermutlich war das von Anfang an Putins Kalkül: so viel Ärger mit einem weiteren Konflikt verursachen, dass die Krim in Vergessenheit gerät.

Das Interesse der Ukraine ist, die Krim immer wieder auf die Tagesordnung zu setzen, womöglich ebenfalls mit fragwürdigen Propagandamethoden. Auch wenn in diesem Konflikt generell die Ukraine das Opfer und Russland der Täter ist: Deutschland und seine Partner müssen darauf achten, sich nicht für Propagandaaktionen missbrauchen zu lassen.

Wie geht es den Menschen auf der Krim zwei Jahre nach der Annexion?

Nicht besser als zuvor und im Zweifel schlechter. Die versprochene Erhöhung der Gehälter und des Lebensstandards ist ausgeblieben. Die Krim gehört nun zu Russland, hat aber keine Landverbindung, was den Wirtschaftsaustausch erschwert. Die Touristen, von denen die Halbinsel lebte, kommen nicht mehr in derselben Zahl. Die Ukrainer wurden vertrieben. Die Krim-Tataren haben unter Repressionen zu leiden. Bei einer erneuten Volksabstimmung all der Menschen, die vor der russischen Intervention dort lebten, wäre ein Ausgang zugunsten Russlands zweifelhaft.

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