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"Ich kenne mich mit dem kulturellen Erbe unseres Landes vermutlich besser aus als viele Deutsche ohne Migrationshintergrund", sagt Anahita Sadighi.

© Foto: Andrea Katheder

Der Kulturbetrieb ist zu homogen: Auch PoC können Beethoven!

Kunst und Kultur bestimmen die Identität eines Landes. Doch die Szene spiegelt die gesellschaftliche Diversität nicht. Das muss sich ändern. Ein Gastbeitrag.

- Anahita Sadighi ist in Teheran geboren und in Berlin aufgewachsen. Sie betreibt zwei Galerien, zuletzt hat sie den Showroom „Studio 4 Berlin“ miteröffnet.

Ich bin auf einer Dinnerparty in Charlottenburg. Viele Kulturschaffende aus Berlin sind gekommen, die Atmosphäre ist ausgelassen. Es ist der Tag nach dem Anschlag in Hanau. Hätte man die Zeitung nicht gelesen, würde man auf dieser Party nichts davon erfahren. Niemand spricht über die Morde, kein Wort.

Das offenbar mangelnde Interesse und die fehlende Solidarität in diesem Kreis wohlgebildeter Menschen haben mich schockiert. Ist es für die Kulturelite dieses Landes kein diskussionswürdiges Anliegen, dass populistische Hetze und kaum stattfindender interkultureller Dialog den Boden nähren für Anschläge wie in Hanau? Liegt es daran, dass die Gäste in dieser Gründerzeitwohnung – bis auf mich und meine Begleitung – allesamt Weiß sind? Ernüchtert, mit einem mulmigen Gefühl, verlasse ich das Fest.

Und frage mich: Wäre dieses Schweigen nach dem Anschlag am Breitscheidplatz denkbar gewesen? Betroffenheit ist bei solchen Ereignissen oftmals stärker mit der eigenen Identifikation mit den Opfern und vor allem der Angst um sich selbst verbunden – und weniger mit tatsächlicher Empathie. Das ist bei den meisten Menschen so. Begreift man aber die Kulturszene als Bühne des interkulturellen Dialogs, zeigt dieses Beispiel doch ganz deutlich, wie viel Arbeit hier noch zu leisten ist.

Ein anderes Beispiel. In meiner Galerie veranstalte ich „Poetry Nights“ – ein Kulturformat, das Literatur, Schauspiel und Musik verbindet. Persische und arabische Literatur werden vorgetragen, insbesondere Autorinnen und Pionierinnen der persischen Lyrik, wie Forough Farrokhzad.

Bei den Performances wirke ich selbst mit und trage Texte auf Deutsch, Englisch und Persisch vor. Regelmäßig höre ich nach der Aufführung denselben Satz: „Du sprichst aber gut Deutsch.“ Das ist sicher freundlich gemeint – aber ich bin in Deutschland aufgewachsen und zur Schule gegangen. Warum ist die Tatsache, dass ich gut Deutsch spreche – genauso wie unzählige andere Persons of Color –, überhaupt ein Thema?

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Die Antwort ist sicherlich vielschichtig. Im Kern aber geht es darum, dass PoC noch immer nicht als Teil deutscher Kultur wahrgenommen werden. Warum? Weil in der Öffentlichkeit zumeist ein konservatives und längst überholtes Bild gezeichnet wird: Deutsche Kultur ist Weiß, deutsche Kultur ist deutsch – und nicht divers. Als PoC passe ich automatisch nicht in dieses Bild. Und für eine Außenstehende ist mein Deutsch dann halt echt verdammt gut!

Es wird oft ausgeblendet, dass viele PoC mit familiärem Migrationshintergrund eine große Nähe zu Deutschland verspüren und sich ein Leben lang mit abendländischer Kultur auseinandersetzen. Für kulturschaffende PoC gilt das in besonderem Maß, auch für mich. Ich bin mit klassischer deutscher Musik, Kunst und Literatur aufgewachsen. Ich kenne mich mit dem kulturellen Erbe unseres Landes vermutlich besser aus als viele Deutsche ohne Migrationshintergrund.

Im Jahr 2020 prägen PoC und Menschen mit Migrationshintergrund die Kultur in Deutschland. Sie sind da, sie sind aktiv – nur sichtbar sind sie noch viel zu wenig. Gerade bei Kulturschaffenden zeigt sich die Diskrepanz zwischen Wirklichkeit und Wahrnehmung von PoC im öffentlichen Raum. Das liegt vor allem daran, dass kulturschaffende PoC kaum in Schlüsselpositionen und damit in den Medien vertreten sind.

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Diese mangelnde Diversität ist ein institutionelles und strukturelles Problem. Berlin ist nicht nur die politische, sondern auch die multikulturelle Hauptstadt. Dessen ungeachtet scheint für öffentliche Kunsteinrichtungen eine strenge deutsche Leit(ungs)kultur zu gelten. Die Quote von PoC in Führungspositionen der wichtigsten Berliner Kunstbetriebe von der Akademie der Künste über den Hamburger Bahnhof bis zum Kupferstichkabinett liegt bei ziemlich genau null Prozent.

In der Bildung sieht es nicht viel besser aus. Das Lehrpersonal des kunsthistorischen Instituts der Freien Universität hat einen PoC-Anteil von etwa 4,5 Prozent. Bei der Fakultät Bildende Kunst an der Universität der Künste sprechen wir über eine Quote von fünf Prozent der Professor*innen.

Auf dem Kunstmarkt zeigt sich ein ähnliches Bild. Im September findet das Gallery Weekend statt, das gerne als Aushängeschild der hiesigen Kunstszene zelebriert wird. Der Anteil der Galerien, die von PoC geführt werden, liegt bei rund vier Prozent (zwei von 48 Galerien), der der vertretenen Künstler*innen bei rund zehn Prozent (fünf von 55).

Wie wäre eine PoC-Quote in öffentlichen Institutionen?

Ja, inzwischen gibt es auch begrüßenswerte Entwicklungen in der Sache. In Teilen der Gesellschaft hat sich ein Bewusstsein für bestehende Probleme entwickelt. Dieses gilt es weiter zu nähren. Ein Umdenken beginnt bei jedem und jeder, der benötigte Strukturwandel ist aber noch in weiter Ferne.

Was tun? In der Kulturpolitik muss ein Diversitätskonzept mit weitreichenden Maßnahmen entwickelt werden – und zwar mit realpolitischen Konsequenzen. Ein erster Schritt wäre eine kritische Untersuchung des Status quo von staatlicher Stelle sowie die konsequente Thematisierung möglicher Maßnahmen und Ziele im öffentlichen Raum. Auch über eine PoC-Quote in öffentlichen Institutionen darf nachgedacht werden.

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Diversity ist keine Trenderscheinung, sondern eine erhebliche Bereicherung für die deutsche Kulturlandschaft und essenziell für die Weiterentwicklung und Wettbewerbsfähigkeit unseres Landes in einer globalisierten Welt. Deutschland ist längst Einwanderungsland. Wir brauchen angewandte Multikulturalität statt Koexistenz und Abgrenzung. So können wir das große Potenzial wecken, das sich in interkulturellem Verständnis verbirgt.

Gelebte Diversität bedeutet auch eine Sensibilisierung für die relevanten Fragen unserer Zeit. Was heißt beispielsweise Identität im Jahre 2020? Gelebte Vielfalt bedeutet sozialen und geistigen Fortschritt und ist zugleich ein bedeutsamer Gegenentwurf zu den Strömungen, die die Frage nach Identität mit Nationalismus, Rassismus und gesellschaftlichem Rückschritt beantworten.

Wer sich einbringt, gehört dazu!

Es muss ein neuer Kulturbegriff geprägt werden, der alle Menschen gleich welcher Herkunft miteinbezieht. Wer sich einbringt, gehört dazu! Das gegenseitige Verständnis von Kulturen funktioniert nur über einen ständigen interkulturellen Austausch. Berlin ist mit seiner offenen, liberalen Atmosphäre ein Anziehungs- und Wunschort für Künstler*innen und Kulturschaffende aus aller Welt, ein Ort von Begegnung, Dialog und Freiheit – Berlin, eine Stadt als Geburt neuer kultureller Identität aus dem Geiste der Diversität? Inschallah!

Anahita Sadighi

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