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Politik: Der Marktplatz der Macht und der Argumente - im Nachhall von Joschka Fischers Rede (Leitartikel)

Nein, ein Farbei hat Joschka Fischer in New York nicht an den Kopf bekommen. Die Delegierten der 54.

Nein, ein Farbei hat Joschka Fischer in New York nicht an den Kopf bekommen. Die Delegierten der 54. Vollversammlung der Vereinten Nationen haben applaudiert, viele gratuliert. Und dennoch: Ob der deutsche Außenminister in den Vereinten Nationen eine Mehrheit bekäme wie daheim auf dem chaotischen Bielefelder Parteitag der Grünen, ist keineswegs ausgemacht. Ein Riss geht durch die Welt. Die Geister scheiden sich an der Frage, ob es erlaubt sei, die Souveränitätsrechte von Staaten außer Acht zu lassen, um zu Gunsten der Menschenrechte und damit zu Gunsten der Menschen zu intervenieren. Ruanda, Bosnien, Kosovo, Ost-Timor - für die einen, darunter Fischer, bedeuten diese Namen mühsame Schritte zur Einsicht, dass es Wichtigeres gibt als Flaggen und Grenzen, wenn es darum geht, Leid zu lindern oder gar zu verhindern; bei den anderen mehren sie die Befürchtung, dass eine Minderheit der Staatengemeinschaft sich die Mehrheit nicht nur ökonomisch, sondern auch politisch und kulturell untertan machen will.

Dieser "Kampf der Kulturen" spielt sich keineswegs an den Grenzen von Morgenland und Abendland, Christentum, Islam und Konfuzianismus ab, wie der amerikanische Sozialwissenschaftler Samuel Huntington prophezeit hat. Wichtiger als Jesus oder Mohammed und ihre Werte sind Gandhi oder Mao. Es geht um Unabhängigkeit. Mit dem Ende des Sozialismus hat sich die Welt aus den Fesseln bipolarer Blockkonfrontation befreit. Aber hinter den Trümmern der alten wird für viele keine schöne neue Weltordnung sichtbar, sondern der Schatten einer noch älteren: des Zeitalters des Kolonialismus. An der Schwelle zum neuen Jahrtausend wähnen sich viele Staaten der Dritten Welt wieder in jener Lage, mit der die Vereinten Nationen bei ihrer Gründung vor über einem halben Jahrhundert hatten Schluss machen wollen - andere, stärkere wollen über sie bestimmen.

In der Debatte über die Reform der Vereinten Nationen wird gern argumentiert, die Zusammensetzung des Sicherheitsrates spiegele die Verhältnisse von heute nicht wieder. Das ist mindestens zum Teil eine fromme Lüge. Sicher gehörten die Wirtschaftsgroßmächte Deutschland und Japan in den Exekutiv-Ausschuss der Weltorganisation. Aber in Asien, Afrika und Lateinamerika haben sich bisher keine kontinentalen Hegemonialmächte herausgebildet. Solange kein Land von den anderen als Wahrer ihrer Interessen anerkannt wird, bleibt die Rotation der Mitglieder der angemessene Mechanismus. Ähnliches gilt für das Veto: Die Vollversammlung der 188 UN-Staaten mag eine Resolution gegen die USA annehmen können, gegen ihre Interessen zu handeln, ist sie nicht ernsthaft in der Lage.

Die UN sind eben kein Weltparlament mit einer Weltregierung, sondern ein großer Markt- und Versammlungsplatz, auf dem höchst unterschiedlich gewichtete Staaten friedlichen Austausch von Argumenten betreiben. Deshalb ist Joschka Fischers Vorschlag, das Veto im Sicherheitsrat mit einer Begründung zu versehen, ein kleiner, aber konsequenter Schritt. Wenn die Weltorganisation handeln soll, braucht sie eine Legitimation. Die beruht leider nicht bloß auf Argumenten, sondern auf Macht; ohne ihren Einsatz wäre den Menschen in Bosnien oder in Ost-Timor nicht zu helfen. Will diese Machtausübung aber als berechtigt anerkannt sein, bedarf es der Argumentation - und des Ausgleichs von Interessen. Die starken Nationen müssen auf die schwächeren Rücksicht nehmen, ihnen helfen. Solange sich viele Länder, zu Recht oder Unrecht, benachteiligt fühlen, werden sie in der humanitären Intervention nur den Eingriff und nicht sein ethisches Fundament entdecken. Dies zu ändern, bedarf es geduldiger und überzeugender Politik. Das kostet jene Zeit, die den Opfern oft fehlt. Aber wer wüsste eine Alternative?

Thomas Kröter

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