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Der Nachbar, der Kollege, der Sportfreund: Vom Alltag der Ausspähung in der DDR

Der jüngste Streit über die Zahl der inoffiziellen Mitarbeiter der Stasi hat etwas überdeckt: Sie war ein Überwachungs- und Repressionsapparat, der sich nicht nur auf hauptamtliche Mitarbeiter stützte, sondern vielmehr auf willige Zuträger mitten aus der Gesellschaft.

Spektakuläre Opfergeschichten und Filme wie „Das Leben der Anderen“ haben unsere Vorstellung von dem geprägt, was Stasi-Überwachung war. Doch laut Statistik sind nur etwa 0,5 Prozent der DDR-Bürger mit ähnlichem Aufwand wie prominente Oppositionelle – Havemann, Biermann oder Poppe – „bearbeitet“ worden. Die meisten DDR-Bürger waren nur in Karteien, Datenbänken und Mini-Dossiers gespeichert. Die Informationen wurden nicht überwiegend von IMs beschafft. Die Datenflut aber war enorm: Gegen Ende der DDR existierten zu fast jedem zweiten DDR-Bürger solche Dossiers.

Die Dossiers wurden in drei Rechercheschritten angelegt. Zunächst wurde in Stasi-Karteien und -Datenbanken recherchiert, ob schon Erkenntnisse vorlagen. In den 80er Jahren kam die zentrale Personendatenbank (ZPDB) dazu. Mit ihr konnten Personenprofile erstellt werden.

Die Erfassung auf den Karteikarten war keineswegs nur harmlos. Über einen Hamburger Seemann, der in der DDR von Bord ging, wurde festgehalten, was er mit wem im Hafen besprach und wen er in der DDR traf. Zu den Routineabfragen in der Kartei gehörten auch die Ergebnisse der Stasi-Postkontrolle.

Nach der Karteirecherche forderte das MfS Daten aus der Zentralen Personen Datenbank (ZPB) des Ministeriums des Innern (MdI) ab. Darin enthalten war auch die Zentrale Einwohnermeldedatenbank der DDR, in die wiederum das Strafregister, die Wehrüberwachung, die Datenbank zu Reiseanträgen und die Rentendatenbank integriert war. Über den Arbeiter einer Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft (LPG) hieß es etwa, ihm sei der Führerschein wegen Fahrens unter Alkoholeinfluss entzogen worden, und die Erlaubnis für Reisen ins sozialistische Ausland sei nicht mehr gültig. Datenschutz war in der DDR ein Fremdwort.

Nach Datenbankrecherche und Postkontrolle drang der MfS-Offizier ins Wohnumfeld vor. Halbprofessionelle Ermittler, IMs, die Geld dafür bekamen, schöpften Leute im Wohngebiet ab, sogenannte Auskunftspersonen. In Rostock findet sich eine Kartei mit solchen Auskunftspersonen. „Rentner, aktiv, sehr gesprächig, lange Wohndauer, gute Kenntnis im Wohngebiet, aufgeschlossen, höflich …“, heißt es da etwa. Die Kartei umfasst nahezu ein Fünftel der Bevölkerung.

Die Stasimitarbeiter traten den Auskunftspersonen mit einer Legende gegenüber, getarnt als Mitarbeiter der Kriminalpolizei, als Finanzkontrolleure oder als Angestellte der Stadtverwaltung. Dennoch gingen die Berichte meistens sehr ins private Detail. Über den Kaderleiter eines VEB hieß es, dass er „ein starker Raucher ist. … Seit dem Jugendalter des Sohnes soll er angeblich seine Mädchen- bzw. Frauenbekanntschaften häufig gewechselt haben.“ Nicht wenige DDR-Bürger verhielten sich gegenüber ihren Nachbarn sehr indiskret. Genannt werden als Informanten oft Rentner, Mitglieder von Hausgemeinschaftsleitungen und diejenigen, die das Hausbuch führten, in dem alle Mieter registriert waren. Auch die Abschnittsbevollmächtigten und deren 173 000 freiwillige Helfer waren ideale Anlaufstellen.

Auch die Beurteilungen über Schüler und Studenten in den Ausbildungseinrichtungen oder Berichte über Pfarrer, Gemeindemitglieder und Oppositionelle, die von ehrenamtlichen und hauptamtlichen Funktionären der CDU verfasst waren, konnten im Bedarfsfall vom MfS angezapft werden. Die Informanten wurden damit unwissentlich zu Helfern der Stasi-Kontrolleure. Die kirchlichen Aktivitäten des Pfarrers in Forst-Noßdorf entsprächen nicht den „festgelegten Normen der Staats- und Rechtsordnung“, beklagte zum Beispiel solch ein CDU-Bericht von 1984, unterschrieben vom damaligen Kreisvorsitzenden und späteren Wirtschaftsminister in der Regierung de Maizière, Gerhard Pohl.

Auch am Arbeitsplatz war das MfS nicht allein auf IM angewiesen, sondern konnte mit „offiziellen“ Kontakten arbeiten. Enge Partner bei der Informationsbeschaffung waren von der SED ausgewählte Nomenklaturkader, Personen in Schlüsselpositionen, auch im Personalbereich. In der Regel finden sich Kopien der Kaderakte in den Mini-Dossiers. Auch Berichte der Einheitsgewerkschaft FDGB wurden abgeschöpft. SED-Mitglieder waren ohnehin laut Parteistatut zur „revolutionären Wachsamkeit“ verpflichtet.

Informationen, die auf all diesen Wegen zur Stasi gelangten, konnten dazu führen, dass Bildungs- und Berufskarrieren beendet oder Reisewünsche zunichte gemacht wurden. Die Stasi bediente sich der vielfältigen Quellen zur sozialen Kontrolle. In manchen Fällen führten die „kleinen“ Überwachungsvorgänge zu einer großen Überwachung und zur Kriminalisierung – wie im Film „Das Leben der Anderen“.
Der Autor Christian Booß ist Historiker und Projektleiter beim Bundesbeauftragten für die Stasiunterlagen.

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