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Politik: Der Normalität so nah

535 Tage nach der Wahl erhält Belgien eine Regierung – mit einem Wallonen an der Spitze.

Berlin - 535 Tage hat es gedauert. Mehr als anderthalb Jahre. So lange hatte zuvor kein anderes Land der Welt gebraucht, um eine Regierung zu bilden. Und nun ging auf einmal alles ganz schnell in Belgien. Am Mittwochabend einigten sich Sozialisten, Christdemokraten und Liberale beider Landesteile im Grundsatz auf eine Regierung, an deren Spitze der Sozialist Elio Di Rupo stehen soll. Dem 60 Jahre alten Wallonen gelang es im Angesicht der Finanzkrise, die zerstrittenen Parteien aus Flandern und Wallonien zu einem Konsens zu führen. Ob es Di Rupo schafft, das Land langfristig zu beruhigen, bleibt allerdings abzuwarten.

Mit einem breiten Grinsen hatte Di Rupo die Verhandlungen am Mittwoch verlassen – ohne einen Kommentar abzugeben. Der 185 Seiten umfassende Kompromiss wurde von den sechs Parteien, je eine der jeweiligen Couleur pro Landesteil, am Donnerstagabend noch einmal gegengelesen, nachdem Di Rupo am Nachmittag bei König Albert II vorstellig geworden war. Erst wenn die Parteitage am Wochenende zustimmen, sollen die Inhalte der Einigung und die Ministerposten bekannt gegeben werden. Und dann könnte in der nächsten Woche tatsächlich das kleine Wunder vollbracht und nach Monaten des Stillstands die belgische Regierung vereidigt werden.

Dass etwas geschehen musste in dem zweigeteilten Land, in dem die niederländischsprachigen Flamen im Norden und den französischsprachigen Wallonen im Süden seit Jahrzehnten im Streit liegen, ist nichts Neues. Doch erst der enorme Druck der Finanzmärkte und eine Drohung von EU-Währungskommissar Olli Rehn haben die politischen Akteure nun offenbar zu mehr Kompromissbereitschaft getrieben. Rehn hatte mit einem Bußgeld für den Fall gedroht, dass im Dezember in Belgien kein Haushalt vorliegen sollte. Belgiens Schuldenquote liegt bei nahezu 100 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Die Risikoprämien für langfristige Staatsanleihen waren zuletzt deutlich gestiegen. Am vergangenen Freitag hatte die Ratingagentur Standard & Poor’s die Kreditwürdigkeit Belgiens von „AA+“ auf „AA“ herabgestuft – was am Wochenende zu einem Durchbruch führte: Die Parteien einigten sich auf umfassende Sparmaßnahmen im Haushalt 2012. Die Gewerkschaften riefen für den heutigen Freitag zu Protesten gegen den Etat auf.

Doch es blieb kaum eine Alternative, zumal das Land zu Beginn 2012 vollständig ohne Regierungschef dazustehen drohte. Der flämische Christdemokrat Yves Leterme sehnte sich nach neuen Aufgaben. Er hatte zwar im April 2010 ein Rücktrittsgesuch beim König eingereicht und die anschließenden Neuwahlen verloren, ist aber aufgrund der immer wieder gescheiterten Regierungsbildung noch immer im Amt. Nun hatte Leterme angekündigt, Anfang 2012 eine Stelle bei der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) in Paris antreten zu wollen.

Ob Di Rupo besser mit dem zankenden Königreich klarkommt, wird sich in den nächsten Wochen zeigen. Der Wallone Di Rupo ist alles andere als ein Wunschkandidat der Flamen, die 60 Prozent der belgischen Bevölkerung und damit meistens auch den Regierungschef stellen. Sein gebrochenes Niederländisch ärgert die Flamen. Yves Leterme, der fließend französisch spricht, konnte sich den Hinweis nicht verkneifen, es sei doch ein Problem, wenn der Chef Schwierigkeiten habe, die Sprache der Mehrheit zu sprechen.

Die hochpolitische Sprachenfrage könnte für Di Rupo in der Tat heikel werden. Die Flamen misstrauen dem promovierten Chemiker, da er die meiste Zeit in Wallonien und im überwiegend frankophonen Brüssel gearbeitet hat. Unter ihm sind keine weitreichenden Staatsreformen zu erwarten, wie sie die nationalistische NVA fordert, immerhin stärkste Partei in Flandern, der der Finanzausgleich von Nord nach Süd ein Ärgernis ist. Sie wird an der Regierung nicht beteiligt.

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