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Politik: Der schwarze Humor des roten Ken

Er spricht Cockney und hält Margaret Thatcher für eine Psychopathin. Er ist links und beliebt.

Er spricht Cockney und hält Margaret Thatcher für eine Psychopathin. Er ist links und beliebt. Die Partei hat ihn deshalb rausgeworfen. Trotzdem will er jetzt Bürgermeister von London werdenHendrik Bebber

Viel Glück, Ken - du schaffst es sicher", brüllen die Müllarbeiter dem Mann im hellen Trenchcoat zu, der sich in Soho durch das Menschengewühl schiebt. "Vergesst bloß nicht, euer Kreuz zu machen", ruft Ken Livingstone lachend zurück, während er unablässig Hände schüttelt. In Soho ist es wie überall in London: Die erste Wahl für ein Stadtoberhaupt der britischen Metropole, die am nächsten Donnerstag stattfindet, scheint schon lange entschieden. Obwohl Tony Blair alles daran gesetzt hatte, die Kandidatur des "roten Ken" zu verhindern, sind die Londoner wild entschlossen, ihren Volkstribun in den Sattel zu heben. Die Buchmacher nehmen schon keine Wetten mehr auf den Sieg des "Unabhängigen" an, weil seine Gegenkandidaten von den großen Parteien in den Meinungsumfragen hoffnungslos abgeschlagen sind.

Mit seinem schnarrenden Cockney-Akzent, seiner Schlagfertigkeit, seinem Humor und dem listig-lässigen Gesichtsausdruck erinnert der 56-jährige Politiker an den Kasperl aus den traditionellen "Punch and Judy"-Shows, der mit anarchischem Witz den Mächtigen eine Nase dreht. Und die Londoner haben ein geradezu diebisches Vergnügen, wie es Livingstone den "Kontroll-Freaks" in der Downing Street wieder mal gezeigt hat. Mit Manipulationen, von denen nach Ansicht eines Kommentators "Nordkorea noch lernen kann", hatte die Parteileitung versucht, Livingstones Kandidatur zu verhindern. Als der auf die letzte parlamentarische Hinterbank verbannte Bannerträger der traditionellen Labour-Linken sein Interesse an dem OB-Posten bekundete, schrillten bei Blairs "New Labour" die Alarmglocken. Für die parteiinterne Nominierung des offiziellen Kandidaten wurde ein Verfahren ausgeklügelt, das Livingstone keine Chance gab.

Nach zweiwöchiger Bedenkzeit verkündete der Geschlagene seine Kandidatur als "Unabhängiger" - und wurde prompt aus der Labour-Partei ausgeschlossen, der er dreißig Jahre lang gedient hatte. London war wie elektrisiert. Rock-Stars wie Damon Albarn ("Blur") und Norman Cook ("Fatboy Slim") machten eine Musikpreisverleihung zur Wahlplattform für Livingstone, Künstler wie Damien Hirst versteigerten Werke, um den Wahlkampf zu finanzieren.

Tony Blair teilt Margaret Thatchers Widerwillen gegen Livingstone, der 1985 als Präsident des Stadtrates von Groß-London seinen Posten verlor, als die "Eiserne Lady" dieses Selbstverwaltungsorgan der gesamten Hauptstadt abschaffte. Die Konservativen verteufelten Livingstone als Rädelsführer eines linkschaotischen Haufens, der angeblich nur Steuergelder für Schwulen- und Lesbengruppen verschleuderte. Doch bei den meisten Londonern war Livingstone sehr beliebt, weil er die Preise für das Nahverkehrssystem drastisch senkte und die Leute nicht mehr stundenlang auf Bus- und U-Bahnen warten mussten. Livingstone hat seiner Erzfeindin nicht vergeben. "Ich halte sie für eine Psychopathin, die unter anderen Umständen Millionen Menschen umgebracht hätte. Stattdessen zerstörte sie die Lebensqualität der meisten Briten." Solche ungeheuerlichen Aussprüche kann sich nur Ken Livingstone leisten. Die Londoner gehen darüber so leicht hinweg wie über seine Behauptung, dass die Banken und das internationale Finanzwesen mehr Menschen getötet hätten als Hitler. Sie sehen darin den Ausdruck seines "schwarzen Humors", der Farbe in langweilige politische Debatten bringt. Zudem schwächt Livingstone nach den Ausfällen seine Behauptungen schnell ab und frisst bei ernsten politischen Debatten kräftig Kreide. So verdammt er Gewalt in jeder Form und will als Londoner OB sofort eine "Botschaft der Wirtschaft" akkreditieren, um Investitionen anzukurbeln.

Dem "Mann des Volkes" schadete es auch nicht, dass er sich vor dem Parlament entschuldigen musste, weil er seine Nebeneinkünfte als Abgeordneter nicht angegeben hatte. Dabei stellte es sich heraus, dass der sich so hemdsärmlig gebende "Kumpel" auch happige Honorare als Kritiker einer Londoner Zeitung für exklusive Restaurants einstrich. Für die Öffentlichkeit war vielmehr klar, dass dahinter eine gezielte "Schmierkampagne" der Regierung steckte. Livingstone redete sich damit heraus, dass er vor lauter Arbeit keine Zeit zum Ausfüllen der Meldeformulare für Privateinkünfte gehabt habe. Die einzige kriminelle Tat, die er jemals begangen habe, sei der Diebstahl eines deutschen Wörterbuchs während seiner Ausbildung zum Lehrer gewesen.

Angesichts von Livingstones Versprechungen fallen solche Unregelmäßigkeiten nicht ins Gewicht. Die Londoner begrüßen seine Absicht, den öffentlichen Nahverkehr nicht zu privatisieren, sondern durch massive Investitionen billiger und besser zu machen. Seine Gegenkandidaten und die Regierung sehen das natürlich als sicheren Weg in den Ruin. Livingstone hingegen will das Programm aus öffentlichen Anleihen finanzieren und aus Sondersteuern für Autofahrer, die die Innenstadt ansteuern.

Mehr als die Hälfte der Londoner sind der Ansicht, dass die "Lukretia Borgia der Linken", wie ihn der ehemalige konservative Innenminister Ken Baker nannte, endlich die "Ratlosigkeit" der Metropole beenden soll. Zwar rollt alljährlich der frisch gewählte Oberbürgermeister von London in einer goldenen Kutsche zum Amtsantritt ins Rathaus. Der Pomp und Bombast des historischen Spektakels täuscht darüber hinweg, dass London wohl die einzige Hauptstadt der Welt ist, die kein Stadtoberhaupt und keinen Stadtrat hat. Der "Lord Mayor of London" ist lediglich das Oberhaupt über die "Goldene Quadratmeile" der City of London. Diese ist nur ein kleiner Teil der 33 Gemeinden, die zusammen Groß-London bilden. Und jede dieser "boroughs" regiert und verwaltet sich selbst, seitdem Margaret Thatchers 1985 den Stadtrat von Groß-London abschaffte. London wurde in die einzelnen Gemeinden aufgebrochen, und übergreifende Funktionen wie Verkehr, Abwasser, Umwelt, Planung und Sicherheit wurden an eine unübersichtliche Fülle von Gremien, Initiativen und Kommissionen übertragen.

Eine "ratlose" Metropole gefährdet nach Ansicht der Londoner Gemeinden die zukünftige Bedeutung der Weltstadt: "Der öffentliche Verkehr ist teuer und unzuverlässig; verstopfte Straßen und Luftverschmutzung werden immer schlimmer. Schlechte Wohnungen, Armut und Diskriminierung sind alltägliche Erfahrungen für viele Londoner. Wir brauchen unbedingt eine strategische Richtung", heißt es in einer Denkschrift. Auf sich allein gestellt, könnten die einzelnen Gemeinden die Gesamtprobleme nicht lösen.

Tatsächlich herrschen zwischen den Londoner Teilgemeinden oft himmelschreiende soziale Unterschiede. Jeder einzelne Gemeindehaushalt wird von der Regierung genau bemessen, und danach richtet sich die von den einzelnen Stadträten festgelegte Gemeindesteuer, die jeder Bürger zahlen muss. Hackney oder Tower Hamlets mit ihren drückenden sozialen Problemen haben natürlich einen höheren Finanzbedarf als das wohlhabende Westminster oder Islington. So müssen die Bürger in den ärmeren Stadtteilen paradoxerweise mehr zahlen als die Londoner in den reichen Bezirken.

Nach seinem Wahlsieg machte Tony Blair sofort sein Versprechen wahr, London wieder ein von allen Bürgern gewähltes Stadtoberhaupt und auch einen übergreifenden Stadtrat zu verschaffen. Als "Kontroll-Freak" verschrien, will Blair aber nicht ausgerechnet in der Metropole einen Stachel im Fleisch seiner "New Labour" dulden. Obwohl sich Tony Blair und seine Politik immer noch einer gewaltigen Popularität bei den Wählern erfreuen, liegt es im britischen Instinkt, den Mächtigen ab und zu einen Denkzettel zu geben. Livingstone als leidenschaftlicher Züchter von Molchen und Lurchen hat so gute Aussichten, im Teich der großen Hechte zu überleben. Mittlerweile schickt sich Blair ins Unvermeidliche: "Jeder weiß, was ich von ihm halte", sagte der Premierminister zähneknirschend. "Aber ich werde selbstverständlich den demokratischen Willen der Londoner respektieren."

Livingstone dagegen ist sich sicher, dass letztlich sein Erfolg die Regierung zum Einlenken zwingen wird: "Ich kann mir Tony Blair gut in seinem Feriendomizil in der Toskana vorstellen, wenn er sagt, was für ein toller, kluger Bursche dieser Ken ist. Warum nur habe ich ihm nicht diesen Job gegeben?"

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