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Politik: Der Staat kriegt keine Kinder

Von Antje Sirleschtov

Sich für ein Kind zu entscheiden, dafür Verantwortung zu übernehmen, ist wohl die persönlichste Entscheidung, die ein Mensch treffen kann. Weil das so ist, muss sich eine moderne, eine soziale Gesellschaft wie die deutsche mit dieser Frage auseinander setzen. Warum wollen junge Frauen und Männer keine Babys bekommen? Warum können sie es in immer größerer Zahl nicht, vor allem: Weshalb fürchten sich junge Menschen so sehr vor der wirtschaftlichen Zukunft mit ein, zwei oder auch noch mehr Kindern? Ein großes Thema für alle, vor allem aber für die große Koalition.

Das Regierungsbündnis der Volksparteien zählt das Thema Familienpolitik zu seinen wichtigsten Zielen – und geht es doch so hasenfüßig an. Da wird gestritten um die letzte sozialpolitische und föderalfiskalische Verteilungsgerechtigkeit eines zusätzlichen Kinder-Steuerprivilegs, da wird heiß diskutiert, ob Eltern für Kitas zahlen sollen. Nur über das Entscheidende wird geschwiegen: wie eines der umfangreichsten und teuersten europäischen Systeme der direkten und indirekten finanziellen Unterstützung für Familien mit Kindern vom Kopf auf die Füße gestellt werden kann.

Was bedeuten 460 Millionen Euro, die die Koalition jetzt ausschütten will, gegen jährlich gut 36 Milliarden Euro Kindergeld, 25 Milliarden Euro kommunaler Kita-Kosten, 19 Milliarden Euro für beitragsfreie Kinderkrankenversicherung, Steuerfreibeträge und, und, und. Was nützen diese vielen Milliarden, wenn am Ende Mütter keinen Job annehmen können, weil niemand da ist, der ihre Kinder betreut, oder weil sie netto gar nicht so viel verdienen können, wie sie brutto bei ihrer Kindertagesstätte oder der Tagesmutter bezahlen müssen? Nein, die deutsche Familienförderung ist weder gerecht noch effektiv. Politiker und Betroffene haben längst die Übersicht verloren. Zufall und Cleverness treiben die Förderung an. Was am schlimmsten ist: Kinder werden nicht wie selbstbestimmte Individuen, sondern wie buchhalterische Sonderbelastungen behandelt. Steuerlich mit Freibeträgen und komplizierten Zuschusssystemen abgefunden, so gut es sich der Staat eben leisten kann. In den Kommunen sind sie bei der Tagesbetreuung abhängig vom lokalen Budget zum Bau und Betrieb einer Kita. Gegängelt werden sie überdies von Parteien, die glauben, über das Einkommensteuergesetz regeln zu müssen, ob jemand von Erzieherinnen oder zu Hause von den Eltern betreut wird.

Beinahe banal ist der Verweis auf intelligente Modelle der Familienförderung, allesamt praxiserprobt, auf Familiensplitting im Steuerrecht und das kommunale Gutscheinmodell für die Tagesbetreuung. Sie sind nur Teile eines grundsätzlichen Systemwechsels in der Familienpolitik, den das Land braucht und dessen Zielrichtung ganz klar ist: nicht immer noch oben drauf, sondern Zusammenfassung bisheriger Leistungen.

Natürlich erfordert dieser Weg viel Kraft. Doch wenn es wahr ist – und Union wie SPD ziehen aus dieser Annahme einen großen Teil ihrer Regierungslegitimität –, dass umfassende Reformen am besten von Regierungen umgesetzt werden können, die von breiten Bevölkerungsschichten getragen werden, dann wird es Zeit, dass Schwarz-Rot die grundlegende familienpolitische Neuordnung beginnt. Das Verteilen von Trostpflästerchen hilft nichts. Eines aber darf man nicht von Angela Merkel erwarten: dass sie uns die Entscheidung zum Kind abnimmt.

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