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Politik: Der Tod kam im Schlaf

Vor 20 Jahren geschah im indischen Bhopal die bisher größte Industriekatastrophe. Bis zu 30 000 Menschen starben an Giftgas

Der Tod kommt in Gestalt einer Wolke. Sie schwebt durch die Straßen, kriecht lautlos in die armseligen Hütten. Es ist nach Mitternacht, die meisten Menschen schlafen. Auch Shafkadbi. Sie wacht erst auf, als sie hustend nach Luft ringt und ihre Augen brennen. Da ist die Wolke schon im Raum. Shafkadbi ist schwanger. In Panik stürzt sie mit ihrem Mann auf die Straße. Nur weg. Weg von der Wolke.

Es ist die Nacht auf den 3. Dezember 1984 und die Menschheit erlebt die bis heute größte Industriekatastrophe. In einer US-Pestizidfabrik tritt Giftgas aus. Bhopal, die indische Stadt mit ihren Gärten, Moscheen und Palästen, wird zum Inbegriff für einen Albtraum. Bei Tagesanbruch bietet sich ein Bild des Grauens: Die Straßen der Armenviertel sind übersät mit Leichen. In und vor den Krankenhäusern ringen Tausende mit dem Tod. Die Ärzte wissen nicht, welches Gift es ist. 8000 Menschen sind in jener Nacht und kurz danach gestorben. Insgesamt sollen bislang zwischen 15 000 und 30 000 Menschen an den Folgen gestorben sein.

Ärzte haben Shafkadbi damals bewusstlos gefunden und ins Hospital gebracht, 17 Tage später wurden die Zwillinge in ihrem Bauch tot geboren. Shafkadbi ist heute Ende 30 und lebt in der „Kolonie der Gasopfer“ am Rande der Stadt. Wie viele leidet sie unter Atemnot, Kopfschmerzen und sieht schlecht. Ab und zu verliert sie das Bewusstsein. Wenn es ihr gut geht, näht sie. Sonst lebt sie von dem, was ihr Sohn ihr gibt.

Pestizide für den indischen Markt hat der US-Konzern Union Carbide hier produziert. Wie es zu der Tragödie kam, ist bis heute umstritten. Klar ist, dass am Abend der Katastrophe Wasser in einen Tank mit hochgiftigem Methyl-Isocyanat (MIC) gelangt und mit diesem zu dem Giftgas reagiert. Union Carbide übernahm damals zwar die „moralische Verantwortung“, doch hält der Konzern an der Version fest, dass nur ein Saboteur aus den Reihen der Angestellten das Wasser in den Tank leiten konnte. Sicherheitsmängel verneint das Unternehmen rigoros. Frühere Angestellte gehen dagegen davon aus, dass die Ursache in Sicherheitsmängeln und Fahrlässigkeit zu suchen ist. Später hat sich Union Carbide freigekauft – für 470 Millionen US-Dollar. Indien akzeptierte dies 1989 als Entschädigung. Der Staat hatte es nicht eilig, das Geld auszuzahlen – erst zwischen 1992 und 2000 kamen die ersten Zahlungen an. Für die vielen Opfer nicht mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein.

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