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Der unbeliebte Präsident: François Hollande und die Zeitbombe Frankreich

„Monsieur Bricolage“ nennen ihn die Franzosen. Einen, der an den Problemen nur herumbastelt. Die Krise ist viel tiefer als gedacht, und er bekommt sie nicht in den Griff. Noch nie war ein Präsident so unbeliebt wie François Hollande.

Djamel Chaar aus Nantes war 43 Jahre alt, verheiratet, blaue Augen, sanftes Gesicht, als er sich an einem Dienstag Mitte Februar mit fünf Litern Benzin übergoss, anzündete und lichterloh brennend noch exakt 38 Meter lief, ehe er vor der Tür des Arbeitsamts zusammenbrach. Ein Arbeitsloser, dem der Anspruch auf finanzielle Hilfe verweigert worden war. Eine lebende Fackel, die die Krise Frankreichs für eine Schrecksekunde grell beleuchtete.

Erst hatte Djamel Chaar keinen Namen, kein Gesicht, keine Geschichte, als die Nachricht von seinem Tod durch die französischen Medien ging. Frankreichs Präsident François Hollande sprach von einem Akt persönlicher Verzweiflung. Aber er gab auch zu, dass Chaars Tod ein Zeichen für den „Ernst der Lage“ sei. Für einen Moment fürchteten sich die Franzosen vor Ausschreitungen, wie sie in der arabischen Welt ausgebrochen waren, nachdem sich dort ein anderer Verzweifelter, der Gemüsehändler Sidi Bouzid, in Brand gesetzt hatte. Aber der Aufstand blieb aus, im Großen. Im Kleinen dauerte es keine 48 Stunden, bis Chaar einen ersten Nachahmer fand. Und kurz darauf versuchten noch drei weitere Männer, sich vor einem Arbeitsamt zu verbrennen. Dass solche Vorfälle zunehmen, bestreiten jetzt auch die Verantwortlichen der Arbeitsagentur Pôle Emploi nicht mehr. Die Lage, sie ist ernst.

Wäre es möglich, dass ganze Länder in eine Depression fallen können, dann wäre dieser Zustand für das heutige Frankreich zu diagnostizieren.

„Frankreich ist traurig, die Leute haben die Schnauze voll“, sagt Schauspieler Gérard Depardieu, der berühmteste aller französischen Steuerflüchtlinge in Interviews, aber er desertiert auch vor einer neuen französischen Verdrossenheit. Es fehle seinem Land an Energie, sagt Depardieu, und dieser eher gefühlte Befund beschäftigt auch die Ökonomen und nationalen Märkte.

Schon im November vergangenen Jahres hatte das britische Magazin „The Economist“ ein Bündel Baguettes mit Zündschnur auf seiner Titelseite gezeigt und von Frankreich als einer Zeitbombe im Herzen Europas gesprochen. Das Schicksal des Euro, schrieb das Londoner Wirtschaftsmagazin, werde sich womöglich nicht in Spanien oder Italien, sondern in Frankreich entscheiden. Und Hollande, seit zehn Monaten im Amt, läuft die Zeit davon, die Bombe zu entschärfen.

Der Sprengsatz besteht aus den explosiven Komponenten unserer Zeit: Die Wirtschaft in Frankreich wächst nicht mehr, die Zahl der Arbeitslosen und Sozialhilfeempfänger nimmt zu, die Staatsschulden stehen nicht mehr im Einklang mit den Einnahmen und erst recht nicht mit den Maastricht-Kriterien. Frankreichs aktuelle Neuverschuldung entspricht nicht wie vorgeschrieben drei Prozent seiner Wirtschaftsleistung, sondern, wie Ende vergangener Woche bekannt wurde, 4,8 Prozent und damit noch deutlich mehr als von der Regierung schon zugegeben. Die Gesamtstaatsverschuldung, die nach den europäischen Verträgen höchstens 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts entsprechen soll, liegt in Frankreich jetzt bei über 90 Prozent.

Die schlechte Bilanz nährt die Zweifel der Franzosen, ob Hollande der richtige Mann im Élysée-Palast ist. Kein Präsident in der Geschichte, der weithin unbeliebte Nicolas Sarkozy eingeschlossen, hatte im ersten Amtsjahr derart miserable Beliebtheitswerte. Die letzten Umfragen belegen, dass nicht einmal mehr ein Drittel der Franzosen Vertrauen in ihren Präsidenten setzen. Nur 22 Prozent der Franzosen halten Hollande für einen guten Staatschef.

"Ist François Hollande schon gescheitert?“

„Ist François Hollande schon gescheitert?“, titelte das linke Magazin „Marianne“ kürzlich und „L’Express“ schob „Ein Fiasko“ hinterher. Noch härter trifft die Regierung die Kritik, die aus den eigenen Reihen kommt. Kein Tag vergeht, an dem nicht ein Minister oder sozialistischer Abgeordneter zurückgepfiffen werden muss, weil er die Linie der Regierung, den Premierminister oder gleich den Präsidenten kritisiert.

Hollande laviert. Er wirkt häufig ziellos, ein wahrer „Tretbootkapitän“, wie ihn seine Gegner während der Wahlkampagne verspottet hatten. Inzwischen konnte der Präsident in der Zeitung lesen, dass sogar seine eigenen Mitarbeiter im Élysée-Palast ihn schlicht „pépère“ nennen, einen „netten Opi“.

Sein einstündiges Fernsehinterview, das er am vergangenen Donnerstag gab, änderte nichts am faden Gesamteindruck. In technokratischer Sprache, die vielleicht noch die Absolventen der französischen Eliteschulen durchdringen, betete Hollande die Maßnahmen herunter, mit denen er die eigene Wirtschaft stärken und die Arbeitslosigkeit in den Städten reduzieren will.

Der „Werkzeugkasten“ sei gefüllt, sagte Hollande, alle Instrumente für den Aufschwung vorhanden. Er werde die Wirtschaft mit einem „Vereinfachungsschock“ beglücken, ein bisschen deregulieren, die Sozialpartner zu Kompromissen zwingen, er werde seinen „Wettbewerbspakt“ durchziehen, mit „Steuerkrediten“ helfen, „Zukunftsarbeitsplätze“ generieren. Derlei Politsprech nennen die Franzosen „Holzsprache“, und Hollande beherrsche sie bis zur Perfektion. Was nicht als Kompliment gemeint ist.

Einen „Bastler“, einen „Monsieur Bricolage“ nennen sie ihn, nett, schon irgendwie kompetent, aber eben auch kleinkariert und blass. Die Franzosen lieben Ruck-Reden, und sie hoffen stets darauf, dass die Amtsinhaber im Élysée das französische Genie verkörpern und sich als Heilsbringer erweisen. Hollande kam diesem Ideal schon sehr nahe, als er Anfang des Jahres praktisch im Alleingang entschied, Soldaten in das von Terroristen bedrohte Mali zu schicken. Das kam gut an. Die Popularitätswerte stiegen, die Franzosen waren stolz auf ihren Präsidenten und das Militär.

Wenn Hollande jetzt verspricht, dass die Arbeitslosenquote vor Ende des Jahres wieder sinken werde, fragt sich Frankreich, wie er dieses Wunder vollbringen will. 3,2 Millionen Franzosen sind arbeitslos gemeldet, das ist eine Quote von beinahe elf Prozent. Es vergeht kein Tag ohne schlechte Nachrichten, unerwartete Pleiten, miese Bilanzen, neue Niederlagen. Insgesamt 266 Fabriken haben im vergangenen Jahr aufgegeben. Ob Goodyear in Amiens, PSA in Aulnay-sous-Bois oder eine kleine Gießerei im Zentrum Frankreichs: Die Verzweiflung schlägt immer öfter in Gewalt um. Arbeiter gehen auf die Straße, errichten Barrikaden, zünden Reifen an, sabotieren Industrieanlagen oder drohen, eine ganze Fabrik in die Luft zu sprengen.

Die Regierung sieht die Probleme, hat aber nur Lösungen anzubieten, deren Umsetzung dauern wird. Arbeitgeber und die gemäßigten Gewerkschaften haben ein „Bündnis für Arbeit“ geschlossen, das Hollande bereits als „historischen Kompromiss“ gefeiert hat. Unter dem Arbeitstitel der „fléxisecurité“ (Flexi-Sicherheit) haben sich die Parteien zu einer vorsichtigen Reform des Arbeitsmarktes durchgerungen. Arbeitsminister Michel Sapin lud in der Woche vor Ostern eine kleine Runde ausländischer Journalisten ein, um das Projekt als „radikale Neuerung“ zu verkaufen. Dass es dabei um den längst überfälligen und sehr vorsichtigen Versuch geht, auf die wirtschaftlichen Realitäten des 21. Jahrhunderts zu reagieren, erwähnte er nicht.

Unternehmen sollen demnach künftig durch Arbeitszeit- und Lohnkürzungen flexibler auf Konjunkturschwankungen reagieren können. Auch soll der in Frankreich extrem strenge Kündigungsschutz leicht gelockert werden. Ebenfalls Teil des Paktes sind staatlich geförderte Beschäftigungsprogramme, die vor allem Jugendliche von der Straße holen sollen.

Von Deutschland lernen?

Frankreich erinnert dieser Tage häufig an das Deutschland aus der Zeit vor der „Agenda 2010“. Minister Sapin sagt, man habe sich bei dem Pakt an Deutschland orientiert: Vor allem die mangelnde Flexibilität sei für die steigenden Arbeitslosenzahlen verantwortlich, sagt Sapin. „Ein französisches Unternehmen, das in Schwierigkeiten kommt, fragt sofort: Wie viele Leute können wir feuern?“ In Deutschland gelte ein anderer Reflex: „Wie viele Stellen können wir retten, indem wir Lohn und Arbeitszeit anpassen?“ Das blieb laut Sapin nicht ohne Folgen: Deutschland habe heute weniger Arbeitslosigkeit als im Juli 2008, während 1,2 Millionen Menschen seitdem in Frankreich ihren Job verloren hätten.

Die Riege der Minister mag von Deutschland lernen und sich von alten französischen Denkgewohnheiten verabschieden, aber die sozialistische Basis und die kleinen Splitterparteien der „gauche plurielle“ ziehen dabei nicht mit. Der linke Flügel der Regierungspartei hat die Reformen sofort aufs Schärfste kritisiert. Trotzdem soll das Reformgesetz im April das Parlament passieren, sagt Sapin.

Gelingt das nicht, dann scheitert Hollande, dann scheitert Premierminister Jean-Marc Ayrault, der in der Nationalversammlung zur „Generalmobilmachung für die Beschäftigung“ aufgerufen hat. Im zweiten großen Fernsehinterview seiner Amtszeit hat der Präsident bereits zugegeben, dass er das Ausmaß der Krise unterschätzt habe. Und so beschleicht derzeit viele Franzosen das Gefühl, dass ihr Präsident monatelang seine Energie auf Nebenschauplätzen verschwendet hat, anstatt das französische Modell zu reformieren. Der Krieg in Mali, so ehrenvoll er sei, lenke doch nur ab vom Kampf gegen die Arbeitslosigkeit, werfen ihm die Kritiker vor. Und mit einer großen Prise ideologischer Verbohrtheit versuche er, den umstrittenen Steuerhöchstsatz von 75 Prozent durchzusetzen, der vom Verfassungsrat gestoppt worden war. Erreicht habe Hollande in dieser Schlacht bislang vor allem eins: das unternehmerfeindliche Klima Frankreichs weiter zu verstärken.

So ist eine der wenigen bereits umgesetzten Reformen die der Schulzeiten. Die Kinder seien eben die Einzigen, höhnen die Franzosen, denen man einschneidende Veränderung zumuten kann, weil sie sich nicht wehren können. Die anhaltenden vehementen Proteste gegen das Gesetz zur Schwulenehe, mit dem Hollande die französische Gesellschaft modernisieren will, beweisen einmal mehr, dass die Franzosen, je stärker sie sich in ihren Grundfesten bedroht fühlen, umso stärker an Traditionen und konservativen Werten festhalten. Frankreich, das ist die Lehre dieser Reform, ist in Teilen noch katholischer und engstirniger, als es die Regierung wahrhaben wollte.

Die Luft wird dünner für Hollande. Nach wie vor fordert die OECD Frankreich zur Rosskur auf. Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung verlangt, dass das Land seinen aufgeblähten Beamtenapparat – 23 Prozent der französischen Arbeitnehmer arbeiten beim Staat – deutlich verschlankt. Ansonsten steige die Steuerlast, was wiederum die freie Wirtschaft belaste. Aber wie soll Hollande das seinem Volk vermitteln? Einem Volk, dessen Jugend zu einem Drittel auf die Frage nach dem Berufswunsch antwortet: Beamter.

„Frankreich bietet einen Wohlfahrtsstaat nach schwedischem Modell an, aber seine Finanzsituation ähnelt eher der Spaniens“, sagt Sophie Pedder, britische Journalistin und Autorin des Buches „Le déni français“ (Die französische Verleugnung). Und sie fügt hinzu: „Die Franzosen sind keine Europäer wie die anderen: Sie sind die letzten verwöhnten Kinder des Kontinents.“

Vielleicht sind die Franzosen die letzten Utopisten Europas, die sich eine gerechte Welt erhoffen, die von den Zwängen der Globalisierung unbeschädigt bleibt. Eine Welt, in der man 35 Stunden pro Woche arbeitet, mit 60 in Rente geht und es trotzdem allen einigermaßen gut geht. Frankreich, die alte, selbstzufriedene, aber auch in aller Welt bewunderte Nation, fürchtet sich vor dem Neuen. Weil es bedeuten könnte, das Eigene zu verlieren und Schritt für Schritt so zu werden wie der ganze Rest der Welt.

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