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Leute, sendet Euch Signale! Der South Portland Head Leuchtturm im amerikanischen Bundesstaat Maine.

© imago/blickwinkel/Kathleen Norris

Unterschied zwischen physischer und sozialer Nähe: Social Distancing ist irreführend, es gibt einen passenderen Begriff

Was für eine Ärgernis, dass alle vom Social Distancing sprechen. Das ist nicht nur ungenau, sondern suggeriert sogar das Gegenteil. Dabei gibt es eine präzise Alternative. Ein Gastbeitrag.

Dass sich der Begriff des social distancing in der öffentlichen Diskussion zur Bewältigung der Coronakrise durchgesetzt hat, ist ein Ärgernis.Er ist nicht nur soziologisch ungenau, er suggeriert sogar das Gegenteil von dem, worum es geht.

Es geht um die Vermeidung physischer Kopräsenz von Menschen, nicht um das soziale Band, das sie verbindet. In der Forschung ist es schon lange Usus, physische und soziale Nähe voneinander zu trennen.

Nur in traditionellen „Anwesenheitsgesellschaften“ konnte man davon ausgehen, dass beides zusammengeht. Entfernungsbeziehungen waren die Ausnahme, das Soziale bildete sich in konzentrischen Kreisen um den Einzelnen oder den Haushalt aus.

Emotionale Erfüllung auf Distanz

Schon lange vor der letzten langen Welle der Globalisierung war gut erforscht, dass enge soziale Beziehungen auch über räumliche Distanzen hinweg nicht nur alltäglich geworden sind, sondern auch emotional erfüllend sein können.

Fernbeziehungen wurden lange über die Briefkultur gepflegt, nunmehr sind das Telefon, soziale Medien und das Internet die Beziehungsmittel der Massen. Damit haben sich Präsenz einerseits und emotionale und soziale Nähe andererseits entzerrt. Gelungene Bindungen zeichnen sich heute nicht mehr dadurch aus, dass man unentwegt aufeinander hockt.

Das bedeutet natürlich nicht, dass wir auf das räumliche Nahe-Beieinandersein, die Nachbarschaften, die geselligen Abende mit Freunden, die good vibrations in einem gerammelt vollen Theater verzichten könnten. Aber es bedeutet, dass wir enge soziale Bindungen auch in der räumlichen Distanz leben können. Auch Fernbeziehungen brauchen mal eine Sauerstoffzufuhr durch das unmittelbare Beisammensein.

Abwesenheit only ist keine Option

Heute gibt es ein Nacheinander von An- und Abwesenheit. Die Tochter, die ein Schuljahr im Ausland verbringt, wird wiederkommen. Den Freund, mit dem man viel erlebt hat und der nun in einer fernen Stadt lebt, wird man wiedertreffen. Nur wer sich hin und wieder face to face begegnet, kann in der Regel räumlichen Abstand gut ertragen. Deswegen ist die längerfristige Umstellung auf „Abwesenheit only“ keine Option.

Was wir neu erproben müssen, ist kein social distancing, sondern ein anspruchsvolles distant socializing. Das betrifft die intensive Kontaktpflege mit jenen, die uns räumlich fern sind, weil dies die Kontaktvermeidung mit den Nahen kompensieren kann.

Da sind die Enkel, die nunmehr täglich mit den Großeltern per Skype verbunden sind, oder die alten Freunde, die man ohne Grund einfach mal wieder anruft. Sie werden jetzt wichtig und man ahnt, dass man auch für sie wichtiger wird.

Neue Verbindungen mit alten Bekannten

Und es betrifft diejenigen, mit denen man täglich oder wöchentlich verkehrte – ob auf der Arbeitsstelle, im Verein, in der Schule oder im Kirchenchor. Menschen, die zwar noch da sind, aber dennoch fehlen. Mit ihnen muss man sich neu verknüpfen.

Jetzt auf andere Weise als gewohnt miteinander in Verbindung zu treten, fällt schwer. Die Anlässe dafür sind erst zu schaffen, nicht immer schon gegeben. Wenn aber Inhalt, Zeitpunkt und Teilnehmer einer Kommunikation vorab festgelegt werden, geht die Spontaneität verloren, fehlt das Moment des Unbestimmten.

Das Spiel der Geselligkeit, das wir für unser emotionales Wohlbefinden so sehr brauchen, geht in sachlichen Zwecken nicht auf. Videochats können physische Anwesenheit daher nicht ersetzen. Das „Lagerfeuer der Moderne“ (Michael Moorstedt) hat sich zwar in den virtuellen Raum verlagert, aber es wärmt nur bedingt.

Auf das Beiläufige kommt es an

Die vielfältigen und oft subtilen Mechanismen der Vorbereitung sprachlicher Kommunikation können hier nicht voll entfaltet werden. Entscheidend für gelungene soziale Kommunikation ist nicht das strategische Moment, sondern ebenso das Zufällige, das Beiläufige, das Ungeplante.

Erst wenn das hinzutritt, etwa im Pausengespräch, entsteht das, was soziale Beziehungen ausmacht. Dieses Unbeabsichtigte müssen wir beim distant socializing noch lernen.

Der Autor, 1968 in Rostock geboren, lehrt Makrosoziologie an der Berliner Humboldt-Universität. Im Suhrkamp Verlag erschien zuletzt sein Buch über „Lütten Klein“, einen Ortsteil von Rostock, und das „Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft“.

Steffen Mau

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