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Politik: Der Wert des Westens

Von Peter von Becker

Vermeintlich harmlose Zeitungskarikaturen entfachen plötzlich gewaltsame internationale Konflikte; ein Schauspieler entreißt einem Theaterkritiker den Notizblock, und schon erscheint der lokale Zwischenfall als exemplarisches Attentat: pöbelnder Künstler, gekränkter Kritiker; ein türkischer Irakkriegsfilm zeigt brutale amerikanische Soldaten, infernalische christliche und womöglich jüdische Killer – und nicht nur der bayerische Ministerpräsident fordert ein Verbot des „rassistischen und antiwestlichen“ Machwerks in deutschen Kinos. Was ist das, was sehen wir da?

Die ganze Welt sei eine Bühne, sagte Shakespeare. Und im Tollhaus der Welt geht derzeit viel durcheinander, was zwar verschieden ist, aber doch irgendwie, und sei’s nur zeitlich zufällig, auch zusammenhängt. Die Freiheit der Kunst, die Freiheit der Kritik und überhaupt der öffentlichen Meinung sind hier allemal berührt, ja: stehen vielleicht mit auf dem Spiel. Dabei konkurrieren diese Rechte, die zum Selbstverständnis unserer Zivilisation gehören, nicht allein mit den Ansprüchen anderer Kulturen, sie kollidieren bisweilen auch miteinander. Der Konflikt gehört dann zum Regelwerk der freiheitlichen Demokratie.

Am klarsten sind die Rollen noch im Theater verteilt. Was auf der Bühne geschieht, ist nichts als Spiel. Weil es den denkbaren Ernstfall nur simuliert und allein aus der eigenen Vorstellungskraft die Welt für den Zuschauer neu erschaffen kann, hat das Theater die Kraft zur Konfrontation (und manchmal auch Provokation). Wird aber das Publikum krampfhaft oder gar rüpelhaft zum leibhaftigen Mitmachen genötigt, verliert das Theater seine symbolische und künstlerische Eigenmacht. Fällt ein Schauspieler wie jetzt im Frankfurter Theater aus der Rolle, verletzt er den grundlegenden Theatervertrag, die Trennung von Schein und Sein, und schwächt die eigene Profession. Aus dem Künstler wird nichts als ein aufdringlicher Mitmensch. Nicht der klagende Kritiker oder eine beflissene Oberbürgermeisterin gefährden hier die Freiheit der Kunst, sondern all die Theater, die es nicht mehr schaffen, aus eigener spielerischer Kraft diese Welt zu (be)deuten.

Die Freiheit der Kritik und der kritischen Kunst ist dagegen beim Streit um die Islam-Karikaturen betroffen. Nun fordern manche, die eben noch die Freiheit des Okzidents gegen ein Bilderverbot des Orients verteidigt haben, Sanktionen gegen das türkische „Tal der Wölfe“, jenen nationalistisch-islamisch gefärbten Film, der seit einer Woche zum Kassenhit bei den türkischen Migranten in Deutschland geworden ist. Auch das „Tal der Wölfe“ ist freilich nur ein Spiel, ist – durch amerikanische Exzesse im Irakkrieg motivisch angeregte – Fiktion und könnte nach deutschem Recht allenfalls verboten werden, wenn die verfassungsmäßige Kunstfreiheit in diesem Einzelfall zur Verletzung anderer Grundrechte und Strafgesetze führen würde. Aber indem der Film amerikanische, christliche, jüdische Bösewichter vorführt, benützt er nur die Klischees, die umgekehrt in unzähligen Western oder West-Ost-Thrillern gegenüber Indianern, roten Russen oder verschlagenen Asiaten eine Rolle spielten. Man mag dieses neue Gegenbild verzerrend, übertrieben und geschmacklos finden. Es ist eine unangenehme filmische – Karikatur.

Doch die halten wir aus. Wir müssen sie aushalten, wenn wir unsere eigenen Maßstäbe ernst nehmen. Kunstfreiheit schützt auch schlechte Kunst. Und Kunst war in der Geschichte oft genug ein Fall von geschmacklicher Grenzüberschreitung, von Stilbruch und Neuschöpfung eines Stils. Auch von Tabubruch. Auf dieser Ebene, an die der Frankfurter Schauspieler oder der türkische Film gar nicht heranreichen, beginnt jetzt freilich eine neue Diskussion. Die wiederkehrende Macht von Weltreligionen und die jüngste politisch-kulturelle Auseinandersetzung zwischen Orient und Okzident zwingt den Westen zu zweierlei: Er muss gegen alle Militanz die Werte seiner Freiheit verteidigen. Gleichzeitig stellt sich die Frage, ob eine mehr als nur weltliche Weltgesellschaft nicht auch eigene Tabus braucht oder fremde respektieren muss. Der Westen stellt sich auch darin selbstreflexiv in Frage. Das zu können, ist sein Wert.

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