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Deutsche Atompolitik: Merkels Kettenreaktion

Am Montag hatte die Bundeskanzlerin zunächst eine dreimonatige Aussetzung der Laufzeitverlängerungen für Atomkraftwerke verkündet, am Dienstag legte sie nach: Die ältesten Atommeiler Deutschlands werden zunächst abgeschaltet. Was bedeutet das?

Die sieben ältesten deutschen Atommeiler werden für drei Monate ausgeschaltet, ihre Sicherheit wird in dieser Zeit intensiv überprüft.

Wie soll der Beschluss rechtlich durchgesetzt werden?

Die rechtliche Grundlage für die Abschaltung der älteren Meiler ist nach Angaben von Bundesumweltminister Norbert Röttgen (CDU) der Paragraf 19 des Atomgesetzes. Der Paragraf ist mit dem Begriff „Staatliche Aufsicht“ überschrieben und Röttgen betonte am Dienstag mehrfach, dass sich „Bund und Länder“, also alle atomaufsichtsbefugten Stellen, einig darüber seien, die sieben ältesten Kraftwerke stillzulegen. Im Absatz drei des Paragrafen heißt es, „dass der Umgang mit radioaktiven Stoffen, die Errichtung und der Betrieb von Anlagen... einstweilen oder, wenn eine erforderliche Genehmigung nicht erteilt oder rechtskräftig widerrufen ist, endgültig eingestellt wird.“ Faktisch kommt das einer Enteignung der Atomkraftwerksbetreiber gleich. Enteignen darf der Staat zwar unter bestimmten sehr engen Bedingungen. Und die Sicherheit von Atomkraftwerken fallen gewiss darunter. Allerdings muss der Staat entschädigen, wen er enteignet. Dafür allerdings müsste es eine Entschädigungsklage geben. Und damit ist vorerst nicht zu rechnen. Unter dem enormen öffentlichen und politischen Druck haben die Betreiber der betroffenen Kraftwerke, wie etwa EnBW, inzwischen signalisiert, dass sie ihre Anlagen freiwillig stilllegen.

Noch nicht gänzlich geklärt ist außerdem die Frage, ob die Regierung ein geltendes Gesetz, nämlich das Atomgesetz, einfach so per Akklamation aussetzen kann – und zwar ohne ein entsprechendes Votum des Gesetzgebers. Und der ist der Bundestag. Mit dem Moratorium hat die Kanzlerin genau das getan: Ohne Gesetz ein Gesetz außer Kraft gesetzt. Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) will nun prüfen, ob für das Atom-Moratorium auch Gesetze geändert werden müssen. (asi)

Was ist mit der Brennelementesteuer?

2,3 Milliarden Euro pro Jahr hat Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) als Einnahmen aus der Brennelementesteuer der Kernkraftwerksbetreiber in den Bundeshaushalt eingeplant. Das ist ein vergleichsweise großer Anteil des Sparpaketes, das die Regierung vergangenes Jahr aufgelegt hat. Doch Steuern zahlt nur, wer Kernkraftwerke betreibt. Und auch die Verkündigung des Moratoriums wirft die Frage auf, ob für das nächste Vierteljahr überhaupt eine Steuer erhoben werden kann. Noch am Montag hatte Schäuble so getan, als gebe es gar keine Zweifel, dass er die Steuer einnehmen wird. Unter den Haushältern der Koalition herrschte am Dienstag aber bereits Einigkeit: Wenn überhaupt, dann wird die Steuer wohl nur zu einem Bruchteil fließen. Denn die Energiekonzerne würden sich bei einem neu zu verhandelnden Laufzeitenvertrag wohl kaum auf eine Steuer in dieser Höhe einlassen, wenn ein großer Teil ihrer abgeschriebenen und damit gewinnträchtigen Meiler geschlossen wird. (asi)

Steigen nun die Strompreise?

Das ist umstritten. Preiserhöhungen könnten nicht ausgeschlossen werden, sagte Wirtschaftsminister Rainer Brüderle (FDP). Auch Jürgen Großmann, Chef des Versorgers RWE, nannte es „eine Illusion“ an einen kompletten Umbau der Stromversorgung und zugleich billige Energie zu glauben. Dagegen schloss die Strom-Expertin Charlotte Loreck vom Freiburger Öko-Institut direkte Folgen für den Strompreis aus. „Der Preis für den Strom, der nun geliefert wird, wurde größtenteils schon im vergangenen Jahr per Termingeschäft vereinbart.“ Nur in seltenen Phasen sehr hohen Verbrauchs werde der tägliche Börsenpreis in Zukunft steigen, wenn teure Reserve-Kraftwerke zugeschaltet werden müssten. „Auf den Durchschnitts-Preis für die Haushalte dürfte sich das kaum auswirken.“ Zumal die Kapazitäten stiegen – es seien neue Stein- und Braunkohlekraftwerke in Bau, und die erneuerbaren Energien wüchsen stärker als gedacht. Auch Gustav Horn, Chef des Wirtschaftsinstituts IMK, sieht keine steigenden Preise. „Wir haben ja einen Strom-Überschuss.“ Durch die Abschaltung erhöhe sich die Rentabilität des Öko-Stroms, weil die Konkurrenz durch den billigen Atomstrom wegfalle. (brö)

Wie reagieren die Bundesländer auf das Moratorium?

In Baden-Württemberg, wo in anderthalb Wochen ein neuer Landtag gewählt wird, kam die Reaktion von Ministerpräsident Stefan Mappus (CDU) prompt: Der Atommeiler Neckarwestheim I wird abgeschaltet, dauerhaft, und stillgelegt“, kündigte Mappus am Dienstag in einer Sondersitzung des Landtags an. Zudem werde der Energiekonzern EnBW angewiesen, das Atomkraftwerk Philippsburg I für eine umfassende Sicherheitsüberprüfung imStillstand „unverzüglich“ vom Netz zu nehmen.

Die hessischen Regierungsparteien CDU und FDP wurden von dem dramatischen Kurswechsel kalt erwischt. Noch am Montagnachmittag hatten Ministerpräsident Volker Bouffier und seine Umweltministerin Lucia Puttrich (beide CDU) versichert, es gebe keine Zweifel an der Sicherheit der ältesten Atommeiler der Republik in Biblis. „In Hessen gibt es keine Tsunamis“, sagte Bouffier; Biblis A werde erst im Juni planmäßig vom Netz gehen. Keine 24 Stunden später musste er an der Seite der Kanzlerin dann doch das einstweilige Aus für Biblis A verkünden. Als einziger der Länderchefs betonte Bouffier auf der gemeinsamen Pressekonferenz immerhin, die Sicherheitsüberprüfungen seien ergebnisoffen. Auch die FDP hatte Mühe mit dem Tempo des Kurswechsels. In einer ersten Reaktion begrüßte Bouffiers Stellvertreter in der Landesregierung, FDP-Landeschef Jörg-Uwe Hahn, zunächst die „Stilllegung der sieben ältesten Atommeiler“, Minuten später wurde die Überschrift der Presseerklärung um das Wort „vorübergehende“ ergänzt. SPD, Grüne und Linkspartei forderten hingegen, Biblis A und B müssten endgültig vom Netz.

In Schleswig-Holstein haben die Kernkraftwerke Brunsbüttel und Krümmel an der Unterelbe keine Zukunft mehr. Schleswig-Holsteins CDU/FDP-Koalition sieht eine energiepolitische Perspektive nur noch für das Kernkraftwerk in Brokdorf. Nachdem sich der FDP-Landesvorsitzende Jürgen Koppelin und der Fraktionsvorsitzende Wolfgang Kubicki bereits einen Tag vor dem von der Kanzlerin verkündeten dreimonatigen Moratorium von den seit fast drei Jahren stillstehenden Reaktoren „verabschiedet“ hatten, appellierte jetzt auch Regierungschef Peter Harry Carstensen (CDU) an die Betreiber Vattenfall und Eon, Krümmel und Brunsbüttel nicht wieder ans Netz gehen zu lassen. Die beiden Siedewasserreaktoren haben sich seit ihrer Inbetriebnahme als besonders pannenanfällig gezeigt. (csl/dhan)

Verfängt der neue Kurs der Bundesregierung in der Bevölkerung?

Für Matthias Jung von der Forschungsgruppe Wahlen ist zumindest klar, dass ein Verzicht auf das Aussetzen der Laufzeitverlängerung die „weitaus schlechtere Alternative“ für die Bundesregierung gewesen wäre. Denn sie habe auf eine „massive Veränderung“ in der Bevölkerung reagieren müssen. Nur noch rund 14 Prozent sind laut Forschungsgruppe Wahlen für längere Akw-Laufzeiten. Im vergangenen November waren es noch 28 Prozent, aber inzwischen sprechen sich 60 Prozent für ein baldiges Abschalten der Akws in Deutschland aus. „Ob das allerdings wirklich verfängt und sich in Wahlergebnissen niederschlägt, ist völlig offen“, sagt Jung. Allerdings sagt er auch, dass vor der Glaubwürdigkeit in diesem Fall die Handlungsfähigkeit steht. „Handlungsfähigkeit in die richtige Richtung ist zunächst wichtiger als die Frage, wer schon immer recht hatte“, sagt Jung. Die Arbeit für die schwarz-gelbe Bundesregierung fange aber jetzt erst an. „Sie muss jetzt eine glaubwürdige Gesamtperspektive nachliefern. Denn sollte sich für den Betrachter herausstellen, dass hinter der Entscheidung kein echter Politikwechsel steht, sondern 100 Prozent Wahlkampf, dann hat Schwarz-Gelb ein großes Problem“, sagt Jung. Insbesondere in Baden-Württemberg könne die Bewertung dieser Politik den Ausschlag geben. In welche Richtung, sei aber noch unklar. „Aber natürlich kauft man einem Politiker wie Bundesumweltminister Norbert Röttgen eine veränderte Position eher ab als einem Atom-Hardliner wie Ministerpräsident Stefan Mappus“, sagt Jung. (ctr)

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