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Bringt das Wort "Unrechtsstaat" nicht über die Lippen: Gregor Gysi.

© dpa

Deutsche Einheit: War die DDR ein Unrechtsstaat?

In Thüringen wird weiter über Rot-Rot-Grün verhandelt. Nun lebt dank Gregor Gysi die alte Debatte wieder auf, ob die DDR ein "Unrechtsstaat" war. Ein Kommentar zum Tag der Einheit.

Ein Kommentar von Gerd Appenzeller

Wer sich mit der Vergangenheit – seiner eigenen oder der des Landes, dessen Staatsbürgerschaft er besitzt – nicht offen auseinandersetzt, wird irgendwann ein Problem mit der Gegenwart bekommen. Frankreich hat lange Zeit nicht wahrhaben wollen, dass es nicht nur im von Deutschen besetzten Teil des Landes eine Résistance gab, sondern in Vichy eine Teilregierung, die mit den Nazis kollaborierte. Die Türkei hat den Völkermord an den Armeniern nicht verdrängen können.

Die Deutschen glaubten an die Generationenlüge von der an den NS-Verbrechen völlig unschuldigen Wehrmacht, bis das Buch „Hitlers willige Vollstrecker“ ihnen die Augen öffnete. Ein leibhaftiger bundesdeutscher Ministerpräsident, Hans Filbinger, rechtfertigte vor sich selbst und der Öffentlichkeit von ihm als Marinerichter zwischen 1943 und 1945 verhängte oder beantragte Todesurteile bis zu seinem Lebensende nach dem Motiv „Was damals Recht war, kann heute nicht Unrecht sein“.

Gregor Gysi will die DDR partout nicht als "Unrechtsstaat" bezeichnet wissen

Und nun kommt, 25 Jahre nach dem Fall der Mauer und unmittelbar vor dem Tag der deutschen Einheit, dem 3. Oktober, eine andere Lebensselbsttäuschung wieder hoch: In Thüringen geraten rot-rot-grüne Sondierungsgespräche in die Krise, weil in einem Diskussionspapier die DDR als Unrechtsstaat bezeichnet wird. Gregor Gysi, Chef der Fraktion Die Linke im Bundestag, kritisiert das. Er sagt: „Es stimmt eben nicht, dass, wenn man kein Rechtsstaat ist, dass man dann automatisch ein Unrechtsstaat ist.“ (Lesen Sie hier weitere Reaktionen auf Gysis Äußerung.)

Schon zweimal, 2009 in Thüringen und 2010 in Nordrhein-Westfalen, scheiterten Überlegungen zu Koalitionen unter Einbindung der Linken an diesem Begriff. Nun kann man sich auf den Standpunkt stellen, dass es ziemlich egal ist, ob eine rot-rot-grüne Koalition zustande kommt oder nicht. Aber die Unterscheidung zwischen „kein Rechtsstaat“ und „kein Unrechtsstaat“ ist schon ziemlich rabulistisch. Denn kaum jemand, der früher in der DDR gelebt hat, behauptet ja ernsthaft, dies sei ein Rechtsstaat gewesen.

Gerd Appenzeller ist Herausgeber des Tagesspiegels.
Gerd Appenzeller ist Herausgeber des Tagesspiegels.

© Tsp

Richard Schröder, der Theologe und ehemalige SPD-Fraktionsvorsitzende in der ersten frei gewählten Volkskammer, hat, als ahnte er diesen Streit, gerade ein Buch aus dem Jahre 2007 aktualisiert und neu herausgegeben. Der Titel: „Irrtümer über die deutsche Einheit“. Die Überschrift über Kapitel zwei lautet: „Die DDR war kein Unrechtsstaat“.

Richard Schröder lässt sich auf die Definition des Unrechtsstaates gar nicht ein, sondern schreibt einfach auf, was den Rechtsstaat ausmacht: Gewaltenteilung, unabhängige Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung, Gleichheit für alle Menschen, vor allem Chancengleichheit, keine Restriktionen bei der Wahl von Schule, Universität und Beruf. Und er zieht dann den Schluss: Nach dieser Definition war und ist die Bundesrepublik ein Rechtsstaat, die DDR eben nicht.

Gysi versucht implizit, der Sowjetunion die Verantwortung für die alltägliche Willkür in der DDR aufzudrücken

Schröder zeigt auch, dass ein anderes, wirklich perfides Argument von Gregor Gysi falsch ist. Bei dem liest sich das so: „Wenn ich die DDR als Unrechtsstaat bezeichne, dann erkläre ich, dass die drei Westmächte das Recht hatten, die Bundesrepublik zu gründen, die Sowjetunion aber als Antwort nicht das Recht hatte, die DDR zu gründen.“ Dies sei in Anbetracht von 20 Millionen Toten in der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg indiskutabel, so, als müsse die DDR automatisch Fleisch vom Fleische der UdSSR gewesen sein.

Gysi gesteht freilich ein, dass es in der DDR grobes Unrecht gegeben hat – die vielen tausend Flüchtlinge in der Prager Botschaft der Bundesrepublik, die vor 25 Jahren freikamen, waren sich wohl ziemlich sicher, dass sie vor grobem Unrecht geflohen waren.

Richard Schröder aber zeigt, als habe er geahnt, was jetzt kommen könne, dass die SED in den fünfziger Jahren teilweise gegen den erklärten Willen Moskaus vorhandene Rechtsstrukturen zerschlagen hat. Er nennt die Zerstörung der Verwaltungsgerichte und die Repressionen gegen die eigene Bevölkerung, vor denen die sowjetische Führung im Vorfeld des Aufstandes im Juni 1953 geradezu beschwörend gewarnt hatte. Die Verantwortung für die alltägliche staatliche Willkür in der DDR der Sowjetunion aufzudrücken, wie Gysi es implizit versucht, ist Geschichtsklitterung. Am Ende wird sich jeder ehemalige DDR-Bürger über die Frage Unrechtsstaat oder nicht sein eigenes Urteil bilden. Die Geschichtsforschung kann dazu aber einen wichtigen Beitrag leisten. Wenn die Zeit vergeht, verklären sich nämlich nicht nur die Dinge – oft wagt man erst dann, die Wahrheiten auszusprechen.

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