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Ein verwitterter Grenzpfosten der DDR auf dem Gelände des Grenzdenkmals in Hötensleben.

© dpa

Deutsche Identität: Wer wir sind

Die Deutschen sind schon lange kein homogenes „Volk“ mehr. Wir sind deutsche Europäer, ein Gewoge aus Selbst- und Fremdbestimmung. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Peter von Becker

"Deutschland? Aber wo liegt es? Ich weiß das Land nicht zu finden“, so steht’s an einer Wand im Berliner Martin-Gropius-Bau. Sie gehört zu der aus London übernommenen, noch bis Januar laufenden Ausstellung über den angelsächsischen Blick auf „Deutschland – Erinnerungen einer Nation“. Kurator Neil MacGregor, jetzt Intendant des Humboldt Forums im Berliner Schloss, hat das Zitat aus Goethes und Schillers vor 220 Jahren verfassten „Xenien“ entnommen. Die Landsuche meinte damals die fehlende, weil noch in lauter Einzelstaaten zerstreute, zerrissene Nation.

Heute gibt es das vereinte Deutschland innerhalb der Europäischen Union. Aber Land und Leute, Nation und Union wirken gleichfalls zerrissen: Selbstzweifel, Skepsis, manchmal sogar Verzweiflung. Dies gilt selbst für stolze europäische Kernländer wie Spanien, Italien, Frankreich. Dort haben zwischen mehr als einem Viertel und fast der Hälfte aller jungen Menschen keine Arbeit.

Deutschland geht es da vergleichsweise gut, wenngleich nicht allen überall. Doch es herrscht in Europa Unruhe, für die der Brexit oder der Streit über die Flüchtlingspolitik nur Symptome sind. Die Ursachen liegen tiefer. Es ist ein Zeitenbruch. Aus einer Epoche des „Versprechens“ ist eine der „Drohung“ geworden, wie der Sozialwissenschaftler Heinz Bude sagt. Die einstige „German Angst“ wird allgemein zur Zukunftssorge. Und während die Schau im Gropius-Bau ein Stück deutscher Identität noch unterm Siegel „Made in Germany“ zwischen Dürer und Volkswagen sucht, wissen viele kaum mehr, wer oder was Dürer bedeutet. VW hat sein Vorbild durch den Dieselskandal in ein Zerrbild verwandelt. Sogar die Zukunft des Autos, der Deutschen Liebstes, ist ungewiss. Denn Ottonormalverbrauchers Motor fährt in seine Endzeit.

Ungewisse Zukunft

Auf eine ungewisse Zukunft reagieren viele nun mit nationaler oder gar nationalistischer Vergangenheitsverklärung. Doch Deutschlands Vergangenheit war, vor dem Gedanken an ein gemeinsames Europa, ebenso wie die Vergangenheit der anderen europäischen Nationalstaaten eine der Kriege. Der jahrhundertelangen Zerstörung des jeweils Anderen und des Eigenen. Seit sieben Jahrzehnten aber hat Europa mehr Frieden und im Ganzen mehr Wohlstand als jemals in seiner Geschichte. Kein europäisches Land allein wäre freilich stark genug, um sich heute und morgen wirtschaftlich, politisch, kulturell isoliert behaupten zu können. Die weltweiten Waren-, Daten- und Finanzströme gilt es zu kanalisieren. An nationalen Grenzen aufzuhalten sind sie nicht, die Exportnation Deutschland würde gar in der Isolation verarmen. Wie ganz Europa. Auch die globale Migration wird nicht mehr hinter gemauerten Scheuklappen verschwinden.

Die Europäische Union zu reformieren und zu stärken, bleibt darum das bessere, wenn auch schwierige Zukunftsprojekt – bis hin zu einer rechtsstaatlich kontrollierten, solidarischen, sicheren Einwanderungspolitik. Und wir selber? Wir sind schon lange kein homogenes „Volk“ mehr, das waren die Deutschen, zwischen Luther und Hitler, Beethoven und Boateng, in Wahrheit noch nie. Wir sind deutsche Europäer, ein Gewoge aus Selbst- und Fremdbestimmung. Wobei unsere freiheitliche Verfassung, im Geist der europäischen Aufklärung und der nach 1945 begründeten UN-Menschenrechtscharta, ein Fels ist, auf dem wir weiter bauen können.

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