zum Hauptinhalt

Deutsche ziehen in den Dschihad: "Felix war nie besonders charakterstark"

Er ist zum Islam konvertiert, hat sich einen langen Bart wachsen lassen. Weihnachten ist er in die Türkei zu einem religiösen Seminar gefahren. Ob er zurückkommt?, fragt sich seine Mutter. Oder zieht er weiter nach Syrien – in den „Heiligen Krieg“? Die Geschichte eines verlorenen Sohnes.

Von Barbara Nolte

Wie sie ihn einschätzten, fragt die Mutter die Männer, die sie immer wieder besuchen. Sie erkundigt sich nach ihrem ältesten Sohn. Einer der Männer ist Kriminalpolizist in der benachbarten Kreisstadt, Abteilung Staatsschutz. Er hat den Sohn observiert. Der zweite Mann arbeitet beim Verfassungsschutz in der Landeshauptstadt, er kennt ihn aus Akten. Alle paar Monate kommt der eine oder der andere zu der Familie raus aufs norddeutsche Land gefahren. Neulich, berichtet die Mutter, habe der Verfassungsschützer zur ihr gesagt, er traue dem Sohn durchaus zu, dass er in den Heiligen Krieg ziehe. Was sie tun könne, um ihn davon abzuhalten, wollte sie vom Polizisten beim Staatsschutz wissen. Der meinte lakonisch: Da helfe nur noch beten, „aber zum richtigen Gott“.

Der Sohn ist 27, Student

Die Mutter lacht. Sie ist eine zierliche Frau Mitte 50 mit langen, schwarz gefärbten Haaren und großen goldenen Ohrringen. Ihr Lachen ist laut, die Stimme dunkel. Es ist nicht so, dass sie den Kontakt zum Sohn verloren hätte. Er ruft sie täglich an. Und alle zwei Wochen kommt er sie zusammen mit seiner Frau und den beiden Enkelinnen besuchen. Die Mutter bittet, sie und ihre Familienangehörigen mit falschen Namen zu versehen, damit der Sohn, von dem sie zwar versichert, dass er sich „null“ für das politische Tagesgeschehen interessiere, seinen Namen nicht zufällig doch irgendwo lese. Sie soll hier Sabine M. heißen, ihr Sohn Felix. Er ist 27, Student.

Das Haus der Familie M. liegt einsam inmitten sumpfiger Wiesen. Es ist der Sonntag vor Weihnachten. In der kleinen Wohnstube brennen Kerzen auf dem Adventskranz. Auf dem CD-Player sitzt ein Plüsch-Nikolaus. Weihnachten, sagt Sabine M., würden sie ohne den Sohn feiern. Das sind sie inzwischen gewohnt. Vor vier Jahren habe der Sohn erklärt, dass er in Ägypten anrufen müsse, um zu erfragen, ob er mitfeiern dürfe. „In Ägypten!“, sagt Sabine M. und lacht wieder, „wir konnten’s nicht fassen.“ Sie gibt sich munter, will keinesfalls wehleidig wirken. Felix ist damals nicht gekommen. Im Jahr drauf sagte er ab, weil er einen Vortrag hören wollte, den Zeitungen mit „Heiliger Krieg am Heiligen Abend“ betitelten. Diesmal fliegt er am Heiligen Abend in die Türkei. Er sagt, er besuche dort für eine Woche ein Islamseminar.

Er sagt: Du bist ein Angsthase!

Durch die Türkei verläuft die Route für ausländische Kämpfer in den syrischen Bürgerkrieg. Sabine M. sagt, dass sie „wahnsinnig schlechte Laune“ bekomme, wenn sie daran denke. Bei einem der vielen Telefonate habe sie ihrem Sohn erzählt, was sie umtreibe. Der antwortete: „Du bist ein kleiner Angsthase.“

Deutsche, die in den Dschihad ziehen. Davon ist seit dem Afghanistankrieg zu lesen. Damals waren es Einzelne. Mittlerweile sei „ein stetiger Strom“ in Richtung Syrien entstanden, wie es Verfassungsschutz-Präsident Hans-Georg Maaßen ausdrückt. Maaßen macht das „Sorgen“. Seine Behörde weiß von ungefähr 240 Personen, die nach Syrien gegangen sind, darunter 24 Berliner. Etwa die Hälfte davon ist im vergangenen Jahr aufgebrochen. Die Dunkelziffer ist angeblich weit höher. Eine seltsame Ungleichzeitigkeit: Syrien verschwindet mehr und mehr aus dem Fokus der Öffentlichkeit, sogar die Empörung über den Einsatz von Giftgas verebbt langsam, dagegen steigt die Zahl der Jugendlichen und jungen Erwachsenen aus Deutschland, die gegen das Assad-Regime kämpfen wollen.

Die Mutter ist evangelisch. Es bedeutet ihr nicht viel

Der Psychologe Kazim Erdogan, der bekannt wurde, als er vor ein paar Jahren in Neukölln eine muslimische Vätergruppe gründete, berief in der Woche vor Weihnachten eine Pressekonferenz ein, um darauf aufmerksam zu machen, dass seine Männergruppe und er „tausende junger Menschen“ für gefährdet hielten, für den syrischen Bürgerkrieg angeworben zu werden. Dazu hatte er Claudia Dantschke eingeladen, die in Berlin Eltern berät, deren Kinder sich religiös radikalisiert haben. Seit einem halben Jahr, sagte Dantschke, würden junge Männer gezielt mit deutschsprachigen Propagandavideos auf Youtube und Facebook geködert. Außerdem seien Muslime sogar auf Berlins Straßen unterwegs, um Mitstreiter für Syrien zu gewinnen. Sogar Mädchen würden angesprochen. Sie sollten Kämpfer heiraten. Syrien werde als der Ort dargestellt, wo die Gesellschaft der Zukunft entstehe: ein Gottesstaat. Mancher würde mit Hilfsorganisationen ins Land gehen und sich erst dort den Rebellen anschließen. Ein „Pop-Dschihadismus“ sei entstanden, sagte Dantschke, der ihrer Erfahrung nach ausschließlich bei jungen Menschen aus wenig religiösen Milieus verfange. Letztlich sei aber nicht zu sagen, wer wirklich in den Krieg ziehe und wer nur damit prahle.

Felix konvertierte nach der Hochzeit

Im Flur der M.s hängt ein Kreuz. Ein Andenken an die Großmutter ihres Mannes, sagt Sabine M., mehr nicht. Sie ist evangelisch, doch Religion bedeutet ihr nicht viel. Deshalb hatte sie nichts dagegen, als Felix vor sechs Jahren vor seiner Hochzeit mit einer Kurdin zum Islam konvertiert ist. Er habe damit bei den Schwiegereltern „punkten“ wollen. „Die Schwiegereltern sind echt locker drauf im Vergleich zu dem, was die da heute abziehen“, sagt sie.

Der Sohn hat sich einen langen Bart wachsen lassen, wie ihn die Salafisten tragen. „Steht dir gar nicht“, meinte die Mutter zu ihm. Er nennt sich Samir. Im Elternhaus deponierte er einen Gebetsteppich. Der Sohn und die Schwiegertochter Roza hätten den Teppich sogar mit an den Strand genommen, um, wie vorgeschrieben, fünf Mal am Tag zu beten.

Früher hatte er viele Freundinnen

Einmal habe Felix in den Raum gesagt: „Auf mich warten im Paradies 72 Jungfrauen.“ Seine Frau habe daneben gestanden. M. sagt, sie sei fassungslos gewesen, dass die Schwiegertochter so einen „Machospruch“ unwidersprochen gelassen habe. Ein anderes Mal habe der Sohn gesagt, dass er das islamische Rechtssystem, die Scharia, gut finde. „Dass Dieben die Hand abgehackt wird?“, fragte Sabine M. Wenn man sich nichts zuschulden kommen lasse, habe man auch nichts zu befürchten, antwortete der Sohn. „Dir hätten sie die Zunge rausgeschnitten!“, sagte die Mutter. Der Sohn habe nämlich einmal vor Gericht falsch ausgesagt, um Freunde zu decken.

Der Vater versucht Felix im Internet hinterherzuspüren

„Felix war nie besonders charakterstark“, sagt Sabine M. Ihr Mann hat sich jetzt mit an den Tisch gesetzt. Er beschreibt den Sohn als „verträgliches Kind“, das in der Pubertät „Lebemannallüren“ entwickelt habe: Oft hatte er mehrere Freundinnen gleichzeitig, die er mithilfe von zwei Handys aneinander vorbeidirigierte. „Jetzt hat er die Stärke der Religion hinter sich“, sagt er.

Seine neuen Freunde sind Salafisten

Felix’ Vater ist ein stämmiger, schnauzbärtiger Mann. Von Beruf Landwirt. Seit ein paar Jahren stehen Windräder auf seinem Acker, seine Frau und er brauchen nicht mehr zu arbeiten. „Vielleicht machen wir uns so große Sorgen, weil wir zu viel Zeit haben“, sagt er, „besonders bei Regen.“ Dann versucht er im Internet dem Sohn hinterherzuspüren. Dabei fand er beispielsweise heraus, dass ein Mitglied eines Vereins, den auch der Sohn besucht, in Kopenhagen ein Attentat vorbereitet hatte. Die Frau von Felix’ angeblich bestem Freund, so las er, hatte Angela Merkel ein Glas Kinderblut geschickt, um gegen Israels Politik im Gazastreifen zu protestieren. Der Sohn bewege sich ausschließlich in salafistischen Kreisen. Die Enkelinnen täten ihm leid. Die Ältere habe ihn letztens gefragt: „Opa, was hast du für einen merkwürdigen Namen?“ – „Dabei heiße ich Hans!“ Eigentlich, sagt er noch, sei der Felix „ja menschlich in Ordnung“ – wenn man das Thema auslasse.

Sabine M. hat im Sommer einmal die Fassung verloren: Die Schwiegertochter hatte zum ersten Mal einen Schleier an. Dabei schien sie ihr zuvor immer an weltlichen Dingen interessiert, vor allem an Mode. Sabine M. steckte den Gebetsteppich der beiden in ein Paket und schickte ihn dem Paar hinterher. „Ich war immer zu tolerant gewesen“, sagt sie. „Ich wollte ein kumpelhaftes Verhältnis zu meinen Söhnen. Hätte ich nur viel früher gesagt: Was für ein Schwachsinn!“ Jetzt winkt sie ihren jüngeren Sohn in die Wohnstube. „Dir war die Roza nie besonders sympathisch, oder?“ fragt sie.

Im Sommer rief die Mutter die Hotline an

Seit dem Sommer lässt sich Sabine M. beraten. Sie wandte sich an die Hotline des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge in Nürnberg und wurde weitervermittelt zu André Taubert nach Bremen.

Taubert hat Sabine M. ein Treffen mit anderen Angehörigen in Hamburg vorgeschlagen. „Ich geh’ auf keinen Elternabend mehr“, wehrte die nur ab. „Der Felix ist bald 28!“ Tauberts Rat, die Telefonate und Treffen mit dem Sohn unbedingt beizubehalten, befolgt sie hingegen. „Dabei fühl’ ich mich manchmal unwohl, wenn er da ist. Das ganze prophetische Gehabe ...“, sagt sie.

André Taubert ist ein bulliger Mann mit Kapuzenshirt und kahl geschorenem Kopf. Das Büro des Vereins Vaja, bei dem er beschäftigt ist, liegt an der Uferzeile zur Weser. „Der Kommunikationsfluss sollte nicht abreißen“, sagt Taubert. Jungs, die sich radikalen islamischen Gruppen anschließen würden, hätten häufig eine besonders enge Bindung zur Mutter. „Verschlechtert sich das Verhältnis zwischen Mutter und Kind, wird sich das Kind extremer verhalten.“

Der Vater macht Witze: Der übt schon mal fürs Kamel

Taubert ist Religionswissenschaftler, Schwerpunkt Islam, was ihm, wie er sagt, für seine Arbeit wenig nütze. Durchaus wertvoll seien dagegen seine Erfahrungen, die er mit rechten Jugendlichen sammelte, die er zuvor zehn Jahre lang betreute. Der Salafismus, dem die Söhne und Töchter seiner Klienten anhängen, habe Anteile davon, sagt er. Beispielsweise seien Jugendliche mit wenig Perspektiven besonders anfällig. „Jeder kann mitmachen. Man gehört zu einer Gruppe, die hochwertiger ist als alle anderen. Man muss nichts dafür tun außer zu konvertieren.“

Manche fahren im Taxi über die Grenze

Mädchen, sagt er, suchten mitunter Schutz bei der strengen Religion, wenn sie sich vom alltäglichen Sexismus bedrängt fühlten. Bei den Jungs „scheint es oft so, als hätten sie nach etwas gesucht, was die Mutter aus dem Konzept bringt“. Zuvor hätten sie von ihren Müttern wenig Grenzen erfahren. Die Rolle der Väter sei dagegen oft „unklar“. Dass einige der jungen Männer neuerdings sogar bereit seien, für ihren Glauben in den Krieg zu ziehen, liegt seiner Ansicht nach „einfach daran, dass es geht“. Syrien ist zugänglicher als Afghanistan. Angeblich fahren sogar türkische Taxis über die grüne Grenze zu den Lagern der Rebellen.

Am Sonntag vor Weihnachten sitzt die Familie M. zusammen und wägt ab, was dafür und was dagegen sprechen könnte, dass Felix nach Syrien weiterfährt. Das tun die M.s oft. Dass die Türkeireise kostenlos sei, sagt Sabine M., sei schon mal dubios. Ein Telefonat kurz vor der Abfahrt hat sie zusätzlich beunruhigt. Darin erzählte ihr der Sohn, dass er mit Freunden reiten war. Früher sei sie oft mit den Kindern auf Pferdehöfen gewesen. Die jungen Männer seien da ohne Sattel geritten. Ihr Mann habe daraufhin gesagt: „Der übt schon fürs Kamel.“ Jetzt lachen alle wieder. Doch es klingt angestrengt. Der jüngere Sohn erzählt, dass er mit Felix beim Fitnesstraining war, wo der mit hassverzerrtem Gesicht auf den Sandsack eingeschlagen habe. Hans M. hat einen ähnlichen Blick bemerkt, als Felix einmal das Kreuz im Flur betrachtete. „Wäre er doch nur Lebemann geblieben!“, sagt er.

André Taubert weiß von mehreren Klientinnen, deren Söhne über Weihnachten zu einer organisierten Türkeireise aufbrechen wollten. Übereinstimmend an den Schilderungen sei, dass die Söhne wenig darüber wüssten. „Weihnachten. Wird bezahlt. Islamseminar. Mehr nicht.“ Taubert zuckt mit den Schultern: „Vielleicht gibt es ja wirklich jemanden, der in der Türkei kostenlose Islamseminare abhält.“

In der SMS steht: Macht Spaß

Ein Anruf nach den Feiertagen. Sabine M. hebt ab. Sie sagt, sie sei „stolz“ auf sich, dass sie Heiligabend durchgestanden habe, ohne in Tränen auszubrechen. Am 25. hat ihr Felix dann eine SMS geschrieben. Es sei „schön“ und die Leute seien „ganz nett“. Sie findet seine Wortwahl „seltsam verhalten“. Sonst sei der Sohn euphorischer. „Herr Taubert sagt immer, ich sei die zentrale Figur, aber ich kann nichts machen“, sagt sie. Als die M.s vor drei Jahren nicht mehr weiterwussten, haben sie bei der Polizei angerufen. Seitdem kommen die Geheimdienstmänner vorbei. „Sie schreiben immer fleißig mit, und dann passiert doch nichts“, sagt Sabine M. Tatsächlich ist es rechtlich fast unmöglich, einen Erwachsenen, von dem man nur vermutet, er könne sich am syrischen Bürgerkrieg beteiligen, aufzuhalten. „Wenigstens die Hassprediger sollten sie verbieten“, sagt Sabine M. „Dann kann ihnen auch keiner hinterherlaufen.“

Felix hat seiner Mutter in den letzten Tagen vier SMS geschickt. Der Text der letzten lautete „Macht Spaß.“

„Nichts Greifbares“, sagt Sabine M. Am Telefon könne sie gut seine Stimmung erspüren, doch das letzte Telefonat hatten sie vor seiner Abreise. Sabine M. ist unruhig, „klar“, sagt sie. Doch sie habe ihm ja selbst geschrieben, dass er sie erst wieder anzurufen brauche, wenn er sicher in Deutschland sei.

Update: Der islamistische Student, der über Weihnachten zu einer als Islam-Seminar etikettierten Reise in die Türkei aufgebrochen war, ist am Sylvestertag nach Deutschland zurückgekehrt.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false