zum Hauptinhalt
Verboten, aber straffrei? Das könnte auch beim Inzest, nach Prüfung des Einzelfalls, zur Regel werden.

© dpa

Deutscher Ethikrat will Inzest-Verbot lockern: Wie weit reicht sexuelle Selbstbestimmung?

Der Deutsche Ethikrat wendet sich mehrheitlich gegen das geschwisterliche Inzest-Verbot. Das stößt bei konservativen Politikern und der Kirche auf heftige Kritik. Die zentrale Frage lautet: Wie weit reicht sexuelle Selbstbestimmung? Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Malte Lehming

Wer den Chor der Empörten hört, möchte vorbehaltlos nicht einstimmen. Der innenpolitische Sprecher der Unionsfraktion, Stephan Mayer (CSU), schimpft über den „sittenwidrigen Vorstoß“. Hessens Innenminister Peter Beuth (CDU) meint, es sei „absurd“, dass sich der Ethikrat angesichts aktuell drängender Themen mit dem Geschwister-Inzest beschäftigt habe. Besser wären der Antisemitismus, der Ukraine-Konflikt oder die Ebola-Epidemie gewesen. Auch die katholischen Bischöfe und die Evangelische Kirche in Deutschland gehen auf die Barrikaden, sprechen von „familiären Rollendiffusionen“ und einer „gesellschaftlichen Tabuverletzung“.

Was war geschehen? Der Deutsche Ethikrat hatte am Mittwoch mit knapper Mehrheit empfohlen, einvernehmlichen Geschlechtsverkehr von erwachsenen Geschwistern nicht mehr unter Strafe zu stellen. Das Gremium wusste, was es tat. Das Thema rühre „an ein gesellschaftlich tief verankertes Tabu“, sagte dessen Vorsitzende, Christiane Woopen, Professorin für Ethik und Theorie der Medizin an der Universität Köln, eine gläubige Katholikin. Außerdem war der Ethikrat durchaus legitimiert, sich mit der Sache zu befassen. Anlass war der „Fall“ des sächsischen Geschwisterpaares Patrick S. und Susan K., das trotz Anzeigen, Gerichtsverfahren und mehrfacher Gefängnisaufenthalte vier Kinder miteinander gezeugt hatte. Vor dem Bundesverfassungsgericht war es mit seiner Beschwerde gegen ein erneutes Urteil gescheitert, ebenso vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.

Das erhöhte Risiko, erblich belastete Kinder zu zeugen, darf kein Argument sein

In Deutschland ist Inzest strafbar. Gemeint ist damit der Beischlaf zwischen Verwandten in gerader Linie, also: Eltern und Großeltern dürfen keinen Sex mit Kindern und Enkeln haben, Geschlechtsverkehr zwischen leiblichen Geschwistern ist ebenfalls verboten. Das Bundesverfassungsgericht lehnte im Jahr 2008 eine Änderung des Paragrafen 173 ab, weil er dem Schutz familiärer Strukturen diene.

Die Stärke des Mehrheitsvotums des Ethikrates besteht nun darin, das Inzest-Verbot auf seinen rationalen Kern hin abgeklopft zu haben. Am Ende bleibt nicht viel übrig. Was spricht dagegen, wenn zwei erwachsene Menschen im gegenseitigen Einvernehmen miteinander Sex haben? Das zweifellos erhöhte Risiko, erblich belastete Kinder zu zeugen, darf kein Argument sein. Zum einen setzte man sich dadurch dem Vorwurf der Eugenik aus, zum anderen gesteht die Gesellschaft auch Behinderten und Frauen über 35 Jahren das Recht auf Nachkommenschaft zu. Der „Schutz der Familie“ wiederum ist ein abstrakter Wert, da ihm der normative Begriff der nicht-inzestuösen Ehe und Familie zugrunde liegt, um das inzestuöse Modell zu verurteilen. Das gleicht einem Zirkelschluss.

Das Polygamie-Verbot lässt sich genauso wenig wie das Inzest-Verbot rein rational begründen

Dennoch hat das Mehrheitsvotum drei gravierende Schwächen. Erstens werden die Konsequenzen der eigenen normativen Weltsicht nicht ausreichend problematisiert. Über Inzest zwischen Kindern und Eltern und Großeltern und Enkel spricht der Ethikrat ausdrücklich nicht. Andererseits verabsolutiert er, zumindest implizit, das „sexuelle Selbstbestimmungsrecht“ erwachsener Menschen in einer Weise, die nahelegt, es zum Beispiel auch auf das Verhältnis einer erwachsenen Tochter zu ihrem leiblichen Vater anzuwenden, dessen Frau nicht mehr lebt und von daher nicht mehr seelisch geschädigt werden kann.

Wenn es stimmt, was Christiane Woopen hofft, dass nämlich „etwas so Wunderschönes und Wertvolles wie die aufrichtige Liebe zwischen zwei Menschen, die keinen anderen Menschen tiefgreifend schädigt, in unserer Gesellschaft lebbar sein möge“, dann träfe das ebenso auf die Tochter-Vater-Liaison zu. Und warum soll man einer solchen nicht auch das Recht auf Eheschließung zubilligen? Und warum muss die Liebe auf zwei Menschen beschränkt bleiben? Das Polygamie-Verbot lässt sich genauso wenig wie das Inzest-Verbot rein rational begründen. Eine offene, einvernehmliche, liebevolle, stabile sexuelle Beziehung von mehr als zwei erwachsenen Menschen, die durch Eheschließung eine familiäre Einheit bilden wollen, wäre argumentativ der logisch nächste Schritt des Ethikrates.

Sexuelle Selbstbestimmung sollte wie keine Selbstbestimmung zum Fetisch werden

Zweitens bagatellisiert das Votum die gesellschaftlich normative Kraft heteronomer Kategorien. Menschen geben sich nicht nur Regeln, sondern finden sie immer schon vor, wachsen in sie hinein. Tradition, Herkunft, Religion und Kultur konstituieren eine verhaltensprägende Wirklichkeit. Der Rebellionsimpuls gegen Fremdbestimmung (habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen) muss sich mäßigen lassen durch verständige Akzeptanz sozialer und moralischer Strukturen. Sexuelle Selbstbestimmung sollte wie keine Selbstbestimmung zum Fetisch werden. Das hat zuletzt die Debatte über die Beschneidung gezeigt. Der beschnittene Säugling wird zweifellos fremdbestimmt. Dennoch ist das elterliche Recht auf Religionsfreiheit gewichtiger als das kindliche Recht auf körperliche Unversehrtheit.

Drittens schließlich hat das Inzest-Verbot durchaus schützende Funktion. Die Familie ist der Haupttatort für sexuelle Misshandlungen und Gewalt. Wenn der Vater seine eigene Tochter oder der größere Bruder seine kleinere Schwester vergewaltigt, kann er sich bei geltendem Inzest-Verbot nie damit herausreden, dies sei einvernehmlich gewesen. Fällt das Tabu, öffnet sich die Möglichkeit dieser Ausrede.

Der Ethikrat hat eine Debatte angestoßen. Sie steht am Anfang, nicht am Ende.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false