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Dorf in Not. Im brandenburgischen Garrey soll die Apotheke geschlossen werden.

© Joana Nietfeld

Deutsches Gesundheitssystem: Stress in der Praxis

Deutschland hat weltweit eines der besten Gesundheitssysteme. Dennoch knirscht es nicht erst seit der Corona-Epidemie im Gebälk. Ein Kommentar.

Im „besten Gesundheitssystem der Welt“ – so die Bundeskanzlerin vor ein paar Tagen in ihrer Fernsehansprache - häufen sich aktuell die Fehlermeldungen und Warnungen vor einem Kollaps.

Das ist kein Wunder. Jetzt sehen sich diejenige bestätigt, die seit Jahren die Abrechnung nach „Fallpauschalen“ kritisieren; in diesem System lohnen sich bestimmte Operationen eher als andere, vor allem eher als die Pflege von Kranken auf den Intensivstationen.

Jetzt sehen sich auch die bestätigt, die generell gegen eine vom Profit getriebene Gesundheitspolitik wettern, wie sie sich etwa an der Beliebtheit bestimmter Spezialisierungen zeigt und daran, dass man als Privatpatient schneller Arzttermine bekommt.

„Der Stresstest“ – so ist die Titelgeschichte des „Spiegel“ in dieser Woche überschrieben. Wer sie liest, riskiert Alpträume und einen psychisch bedingten Fieberschub. Tatsächlich ist man in Deutschland vergleichsweise gut dran, wenn man ärztliche Hilfe braucht.

Woanders gibt es Hilfe nur gegen Cash

Ein gestresstes System ist sicher besser als eins, in dem man Hilfe nur gegen sehr viel Cash bekommt (USA) – oder, wie in England, nach langer, langer Wartezeit. Und doch: Im Lauf eines längeren Lebens macht man Erfahrungen mit diesem deutschen System, die zeigen, dass die Worte der Kanzlerin sehr relativ zu verstehen sind.

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn hat in relativ kurzer Zeit immerhin bewiesen, dass er auf Mängelanzeigen aller Art reagiert. Aber der aktuelle Stresstest zeigt eben auch, wie wenig sich zum Besseren gewandelt hat.

Es geht bei den Amtsärzten los. Plötzlich sind sie wichtige Berater der Bürgermeister und Senatoren, wenn es um Tests, Sicherheitsabstände und anderes geht. Zuvor hat es jahrelang kaum interessiert, wie lange Amtsarztstellen unbesetzt bleiben, weil man auf so einem Posten deutlich weniger verdient denn als Kassenarzt mit einer privaten Praxis.

Dabei zeigt jeder genauere Blick auf die medizinischen Dienste der Kommunen, dass dort mindestens so viel Idealismus erforderlich ist wie bei der Gründung einer eigenen Praxis. Ganz zu schweigen vom Pflegepersonal.

Junge Pfleger fühlen sich zurecht unterbezahlt

Minister Spahn hat in der Zeit vor der Krise deutlich gemacht, dass er hier etwas tun will. Pflegerinnen und Pfleger werden nicht gut genug bezahlt, um diesen anstrengenden Beruf anziehender für junge Leute zu machen.

Viele scheinen das zu wissen. All die, sich jetzt Abend zum Beifallklatschen für das Klinikpersonal versammeln, haben eine Vorstellung von dem, was Pflegerinnen und Pfleger aktuell leisten. Der Beifall ist eine schöne Geste, aber dabei darf es nicht bleiben. Spahn hat 2019 Besserung versprochen - bitter nötig, wenn 40.000 Pflegestellen unbesetzt sind.

Inzwischen gilt ein Mindestlohn von 15 Euro für gelernte Kräfte. Ob das reicht? Auch das wird sich im Stresstest zeigen.

Sicher, ein Gesundheitssystem ist nie perfekt. Ärztinnen und Ärzte sind nicht bloß Techniker, Pflegerinnen und Pfleger nicht bloß Helfer. Es geht immer auch um Zuwendung.

Wer mal mitbekommt, etwa wenn Angehörige Hilfe brauchen, wie viel Stress in diesem Betrieb üblich ist, der wundert sich darüber, dass für Zuwendung immer noch Raum und Zeit bleiben.

Ärztemangel auf dem Land

Wer vier Wochen warten muss, bis ihm ein – vollständig unterbezahlter, bestens ausgebildeter – Physiotherapeut dabei hilft, eine Knie- oder Rückenoperation zu verhindern, der kann das mit dem besten System der Welt nicht nachvollziehen.

Man könnte die Liste der Mängel im System verlängern: Fehlende Ärzte auf dem Land, die Schließung kleiner Krankenhäuser, die sich nicht rechnen.

Und wer aktuell mitbekommt, wie groß Sorgen und Horrorvorstellung bei vielen sind, der ahnt, dass auf die für die Seele zuständige Branche viele Anfragen einstürmen. Die Wartezeiten für Menschen, die mit einem Psychologen ins Gespräch kommen wollen, beträgt inzwischen etwa drei Monate.

So war es vor der Corona-Epidemie. Eine erträgliche Wartezeit? Oder ein weiteres Symptom dafür, dass das Gesundheitssystem längst schwer am Kränkeln ist? Dass es nach der Devise funktioniert: Notfalls gibt es den Krisendienst und die Psychiatrie im Krankenhaus? Das ist ein bisschen wie mit der Notaufnahme in den Kliniken, in der die Leute am Wochenende über viele Stunden sitzen, weil sie keinen Facharzt-Termin bekommen haben.

Muss das so sein in hochkomplexen, demokratisch verfassten Gesellschaften: dass nur eine Krise einen Handlungsdruck erzeugt, der stark genug ist, um Defizite einigermaßen schnell auszugleichen? Es wäre eine gefährliche Entwicklung.

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