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Für viele  ein Ärgernis: Thilo Sarrazin, damals noch SPD-Mitglied, bei der Vorstellung seines Buches Feindliche Übernahme Deutschland im Jahr 2018.

© imago/IPON

Deutschtürken lassen SPD fallen: Von Thilo Sarrazin vertrieben

Bis vor wenigen Jahren galt: Spätaussiedler stimmen für die Union, Deutschtürken für die SPD. Das ist vorbei. Warum haben ihre Anhänger mit den Sozialdemokraten gebrochen?

Von Hans Monath

Vor vier Jahren schien die sozialdemokratische Welt noch in Ordnung, zumindest für Aydan Özoguz. „Die Union hat sich immer klar gegen Gastarbeiter und ganz konkret gegen Türken positioniert“, urteilte die damalige Staatsministerin und Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration kurz vor der Bundestagswahl 2017 in einem Interview.

Özoguz, die zu diesem Zeitpunkt stellvertretende Vorsitzender der SPD war, konnte auf die Zustimmung der türkischen Community in Deutschland bauen. Die nämlich hatte noch bei der Bundestagswahl 2014 zu zwei Drittel ihr Kreuz bei den Sozialdemokraten gemacht.

Doch eine dramatische Entwicklung hat innerhalb von wenigen Jahren die Dominanz der SPD bei Deutschtürken vollständig gebrochen. Die einstige Faustregel, wonach Spätaussiedler für die Union und Türkeistämmige für die SPD votieren, sie gilt nicht mehr. 

Die Union ist in der türkischen Community nun beliebter, als es die SPD früher war

Im Vergleich der Jahre 2015 zu 2019 büßt laut einer kürzlich veröffentlichten Studie von Viola Neu für die Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) die SPD bei den Türkeistämmigen massiv ein – von 50 auf nur noch 13 Prozent. Die Union verliert bei russischstämmigen Migranten (Rückgang von 56 auf 29 Prozent), legt aber bei türkeistämmigen Migranten so stark zu (von 17 auf 53 Prozent), dass sie damit sogar den Wert der SPD in dieser Gruppe vor sechs Jahren überholt.

Angekommen, um zu bleiben: Lange stimmten Deutschtürken mehrheitlich für linke Parteien, doch das ist vorbei.
Angekommen, um zu bleiben: Lange stimmten Deutschtürken mehrheitlich für linke Parteien, doch das ist vorbei.

© DPA

Die Gruppe ist ein wichtiger Faktor in der Politik: Rund sieben Millionen Deutsche mit Migrationshintergrund dürfen wählen, etwa zehn Prozent aller Wahlberechtigten machen sie aus.

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Zwei Fragen gilt es zu klären: Sind die Befunde der KAS-Studie plausibel? Und wenn ja: Was sind die Gründe für die erdrutschartige Verschiebung zum Nachteil einer Partei, die Gleichberechtigung und Achtung für Migrantinnen und Migranten zu ihren Grundwerten zählt? Und warum profitiert davon eine Partei so stark, die sich laut Özoguz „ganz konkret gegen Türken“ positioniert hatte?

Die Zahlen der KAS-Studie seien womöglich „etwas dramatisierend“, aber eine Verschiebung sei unübersehbar, sagt Haci-Halil Uslucan, Leiter des Essener Zentrums für Türkeistudien und Integrationsforschung. Es gebe „bei den Türkeistämmigen eine beobachtbare Abwendung von der SPD“, erklärt der Professor für Psychologie.

Er verweist auf eine Studie des Sachverständigenrates für Integration und Migration aus dem Jahr 2018. Schon die beschrieb, dass die Union bei Migrantinnen und Migranten zu Lasten der SPD gewann, und kam damals zu dem Schluss: „Der Befund von 2016, dass Menschen mit Migrationshintergrund mehrheitlich Parteien links der Mitte bevorzugten, trifft nicht mehr zu.“

Sabrina J. Mayer vom Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung in Berlin ist Ko-Autorin einer Studie, die auf breiter Datenbasis die Präferenz von Migrantinnen und Migranten bei der Bundestagswahl 2017 untersuchte. „Den Prozess einer Normalisierung der Parteibindungen für die Gruppen der Zugewanderten“, nämlich eine Abkehr der Türkeistämmigen von der SPD und der Spätaussiedler von der CDU, „konnten wir schon damals beobachten“, sagt sie heute. Dass die Präferenz der Deutschtürken für die SPD in der KAS-Studie um zwei Drittel zurückgehe, verwundere sie allerdings und könne auch an methodisch bedingten Unschärfen liegen.

Auch die SPD-Führung bestreitet die Tendenz nicht. „Für die SPD müssen diese Zahlen ein Ansporn sein“, sagt die stellvertretende Bundesvorsitzende Serpil Midyatli: „Türkeistämmige Deutsche wählen uns längst nicht mehr automatisch, sondern verlangen zu Recht politische Angebote.“ Und die Berliner SPD-Bundestagsabgeordnete Cansel Kiziltepe nennt die in der Studie aufgeführten Verluste ihrer Partei „bedauerlich“.

Ein Faktor für den Umschwung, den sowohl Experten wie Parteivertreter nennen, ist Thilo Sarrazin. „Die SPD hat sich lange Zeit einen Rassisten in ihrer Partei geleistet, der durch nichts anderes aufgefallen ist als durch seine Pöbeleien gegen Muslime und Türken“, meint Uslucan.

Hat Thilo Sarrazin Türkeistämmige von der SPD weggetrieben?

Auch Aziz Bozkurt, Bundesvorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Integration und Vielfalt in der SPD, verweist unter anderem auf den Berliner Ex-Finanzsenator und Buchautor: Bei Menschen mit Einwanderungsgeschichte und insbesondere bei Türkeistämmigen habe im Verhältnis zur SPD womöglich „ein Dreiklang aus Enttäuschung, Emanzipation und Normalisierung“ den Ausschlag gegeben: „Enttäuschung, weil gerade von der SPD deutlich mehr erwartet wird, als von anderen Parteien, weil sie die Partei unserer Großeltern und Eltern war und Diskussionen um Sarrazin eine grobe Verletzung des Vertrauensverhältnisses bedeuteten.“

Einen grundlegenden Wandel im Verhältnis der Deutschtürken zur CDU hat auch Serap Güler erlebt, Ko-Vorsitzende des Netzwerks Integration der CDU. „Als ich 2009 der CDU beigetreten bin, war es noch verpönt, vor allem in der türkischen Community, CDU Mitglied zu sein. Das ist heute vollkommen anders“, sagt die Staatssekretärin im nordrhein-westfälischen Ministerium für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration, die Tochter türkischer Einwanderer ist.

Sowohl die Deutschtürken als auch die eigene Partei habe sich seither verändert, argumentiert sie. Die Türkeistämmigen seien vor allem deshalb enttäuscht von der SPD, weil die ihnen lange den „Doppelpass“ versprochen habe, dann aber nicht konsequent dafür eingetreten sei. Für viele sei das „der letzte Tropfen“ gewesen, um sich von der SPD abzuwenden. Gleichzeitig sei die CDU „stärker zu einer modernen Volkspartei geworden“. Auch viele Menschen mit Migrationsgeschichte schätzten Angela Merkel, der das Wort „Einwanderungsland“ ganz selbstverständlich über die Lippen komme. Aber auch Themen wie Wirtschaftskompetenz oder das Versprechen der Inneren Sicherheit würden für Migranten „immer bedeutender“.

Ähnlich sieht das Migrationsforscher Uslucan: „Wenn die CDU das C nicht allzu stark macht, ist sie von ihrer Gesinnung sehr nahe bei einem Großteil der türkeistämmigen Bevölkerung“, meint er und verweist etwa auf gemeinsame traditionelle Vorstellungen von Religion, Brauchtum und Familie.

Sozialdemokrat Bozkurt hält neben Fehlern, Unklarheiten und Widersprüchlichkeiten seiner Partei im Umgang mit der Türkei und deren Präsidenten Recep Tayyip Erdogan eine „Normalisierung“ der Deutschtürken für eine Ursache der Entwicklung. Es sei eine Frage der Zeit gewesen, bis Menschen mit Zuwanderungshintergrund „sich auf das Hier konzentrieren und dann so wählen, wie sie sich auch wertemäßig verorten“, sagt er und fügt hinzu: „Wieso soll ein ultrakonservativer Türkeistämmiger die progressive Familienpolitik der SPD gut finden?“

Kind türkischer Gastarbeiter, Staatssekretärin und Ko-Chefin des Netzwerks Integration in der CDU: Serap Güler.
Kind türkischer Gastarbeiter, Staatssekretärin und Ko-Chefin des Netzwerks Integration in der CDU: Serap Güler.

© imago/photothek

Auch Viola Neu, die Autorin der KAS-Studie, hält den Prozess der Normalisierung für die plausibelste Erklärung für die von ihr beschriebene Verschiebung. Demnach nähern sich Migranten dem Wahlverhalten der Mehrheitsgesellschaft an.

SPD-Mann Bozkurt setzt darauf, dass seine Partei wieder Zustimmung unter Migranten gewinnt, wenn sie sich wieder klarer zur Einwanderungsgesellschaft bekennt und „Vielfalt in den eigenen Reihen“ zum wichtigen Ziel erhebt. Gerade der Untersuchungszeitraum der KAS-Studie seien für die SPD schwierige Zeiten gewesen „Ich bin guter Dinge, dass das jetzt läuft“, sagt der Berliner.

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Leichter für die Sozialdemokraten im Wettstreit mit der Union um diese Gruppe wäre es wohl geworden, wenn die CDU Friedrich Merz zum Vorsitzenden gewählt hätte. Doch es kam anders.

Armin Laschet ist nicht nur der politische Ziehvater von Serap Güler, sondern war 2005 auch erster Integrationsminister eines Bundeslandes. Seine liberale Haltung in der Flüchtlings- und Integrationspolitik mögen dem konservativen Flügel seiner Partei missfallen. Sie sind aber wohl  kein Hindernis dafür, dass die türkische Community sich auch künftig von der CDU gut vertreten fühlt.

SPD-Vizechefin Midyatli sagt, sie sei trotzdem „sehr zuversichtlich“, was den Zuspruch von Wählern mit Migrationshintergrund bei der Bundestagswahl angehe. Schließlich habe die SPD bei für sie wichtigen Themen wie dem Einsatz für den Doppelpass, dem Kampf gegen Rechtsterrorismus oder der Repräsentanz dieser Gruppe in Partei und Parlamenten „große Fortschritte gemacht“. Im Übrigen halte sie selbst es „als Deutsche mit Eltern, die aus der Türkei gekommen sind, für einen Beleg gelungener Integration, dass Menschen mit Migrationsgeschichte in ihrer Parteipräferenz volatiler werden“. Denn so sei es „ja auch in der gesamten Gesellschaft“.  

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