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Politik: Die Angst ist schneller

SARS UND WIR

Hamsterkäufe in Hongkong, weil ein 14-Jähriger über das Internet die ganze Stadt zur infizierten Zone erklärt hat. Kurz entschlossen werden über 200 Bewohner eines Wohnblocks erst unter Quarantäne gestellt und dann zwangsweise in Ferienanlagen vor der Stadt festgesetzt. Der Umgang der Hongkonger Behörden mit dem unbekannten Virus gilt als vorbildlich. Die Geheimniskrämerei um die chinesische Provinz Guangdong, wo die Lungenkrankheit ihren Ursprung hat, empört dagegen nicht nur die Experten der Weltgesundheitsorganisation WHO. Denn eine der wenigen handfesten Erkenntnisse über das neue Virus ist seine rasche Verbreitung über den ganzen Globus. Medien und Bürger übersetzen sie weltweit in den Satz: Sars geht uns doch alle an.

Ob der Abtransport der Kranken, Infizierten und Gesunden aus dem Hongkonger Wohnblock in die Isolation angemessen ist, entzieht sich dem wissenschaftlichen Erkenntnisstand und unserem Urteilsvermögen. Aber bedrückend ist das Bild von den Bustransporten vor die Stadt allein wegen des Kontrastes. Denn das Virus hat längst eine komfortable Reise um die Welt angetreten, in Flugzeugen voller Geschäftsleute und Touristen. Die nichts zu tun haben mit den engen und bedrängten Lebensverhältnissen in Asien, die als Brutstätte der neuen Krankheit anzusehen sind – Sars kümmert sich nicht darum. Einmal auf den Menschen gekommen, fragen diese Mikroben so wenig nach Herkunft, Wohnort und Einkommen wie ihre Vorgänger, die in den letzten Jahrzehnten tödliche Grippewellen, Aids oder Ebola verbreitet haben. Immer lassen sie den Schauder vor dem plötzlichen Tod aufsteigen, den die Pest allen Menschen tief eingepflanzt hat.

Unser wissenschaftliches, soziales und psychologisches Potenzial im Kampf mit ansteckenden Krankheiten ist seit den mittelalterlichen Epidemien unendlich gewachsen. Es wird auch gegen Sars wirksam werden. Doch jedes neue Virus ertappt uns dabei, dass wir über die instinktiven Ängste unserer Vorfahren kaum hinausgewachsen sind. Und in mancher Hinsicht sind wir schlimmer dran. Denn wir teilen die Urangst früherer Generationen, nicht aber ihre Schicksalsergebenheit. Wir spielen ja selbst Schicksal, denn nur über unsere Lebensweise verbreiten sich Aids oder Sars global. Zugleich sperrt sich das moderne Individualitätsbewusstsein gegen ein Kollektivereignis, das ohne eigenes Zutun jeden als Opfer treffen oder als Infektionsträger in Haft nehmen kann. In der globalisierten Welt versagen die klassischen Abwehrreflexe. Wer kann, flieht in die nächste Stadt, wer Pech hat, wird isoliert und ausgegrenzt? Dieses Überlebensmotto taugt nicht einmal für Illusionen. Während die ersten Sars-Opfer isoliert werden, haben die Flüchtenden das Virus schon in alle Welt verbreitet.

Deshalb helfen wir uns anders. Wir reden, diskutieren, erörtern. Wir wollen alles wissen. Unvermeidlich vermischt sich dabei die Aufklärung über die Sache mit der Abwehr unserer Angst. Als freudianisch gebildete Kenner fragen wir bei solchen Gelegenheiten danach, ob unsere öffentliche Debatte die Gefahren nicht übertreibt. Wir wissen aus Erfahrung, dass die Grenze von Aufklärung zur Hysterie schnell überschritten sein kann. Und auch, dass manchmal auf die große öffentliche Aufregung die gründliche Verdrängung folgt. Wir sollten dabei nicht zu streng mit uns sein. Weil Sars unheimlich ist, brauchen wir nicht nur die Wissenschaft, die das Virus bannt. Sondern auch das öffentliche Palaver gegen die Angst.

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