zum Hauptinhalt

Politik: Die Angst vor dem Desinteresse

Der Missbrauchsbeauftragte Rörig fordert mehr Engagement bei Aufklärung und Prävention.

Berlin - Matthias Katsch freut es, dass sich die Grünen ihrer Vergangenheit stellen wollen. Ein Göttinger Parteienforscher soll ihr Verhältnis zur Pädophilie untersuchen. Katsch hat als Jugendlicher sexuelle Gewalt erlebt und rät den Wissenschaftlern, mit möglichst vielen Opfern zu sprechen. „Wir wissen am besten, wo die Schwachstellen in einem System liegen, die sexuellen Missbrauch ermöglichen.“ Die Grünen sollten Betroffene aufrufen, sich zu melden, fordert Katsch. Auch andere gesellschaftliche Bereiche wie der Sport oder die evangelische Kirche sollten sich mit entsprechenden Aufrufen an die Öffentlichkeit wenden. Doch Matthias Katsch hat in den vergangenen Jahren gelernt: „Vor den Opfern scheuen die Institutionen zurück.“

Er selbst wurde als Schüler auf dem Berliner Canisius-Kolleg von einem Jesuitenpater misshandelt und war einer der ersten Männer, die 2010 mit ihrer Geschichte an die Öffentlichkeit gegangen sind. Ihm und vielen anderen Betroffenen ist es zu verdanken, dass eine gesellschaftliche Debatte in Gang gekommen ist und heute mehr als früher im allgemeinen Bewusstsein verankert ist, wie traumatisch sich sexueller Missbrauch auswirkt – und dass Kinder davor unbedingt geschützt werden müssen.

Da sich die Institutionen mit der Aufklärung schwertun – die katholische Kirche hat gerade einen zweiten Anlauf gestartet, um ein Team von Forschern dafür zu finden – fordern Matthias Katsch und andere Betroffene eine unabhängige Untersuchungskommission, die institutionenübergreifend und systematisch das Thema aufarbeitet, finanziert vom Bund.

Johannes-Wilhelm Rörig, der unabhängige Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, unterstützt diese Forderung. Er ist allerdings nur noch bis Ende der Legislaturperiode im Amt. Ob die nächste Bundesregierung seine Stelle verlängert, ist ungewiss. Lediglich die FDP und die Grünen haben in ihren Wahlprogrammen eine solche Absicht formuliert. „Ich hätte mir das auch von den großen Parteien gewünscht“, sagt Katsch. „Jetzt fürchten wir Betroffenen, dass das Thema hinten runterfallen wird.“

Das wäre fatal, sagte Johannes-Wilhelm Rörig am Donnerstag in Berlin vor Journalisten und bilanzierte seine Arbeit. Er fordert, dass die nächste Bundesregierung die unabhängige Stelle auch gesetzlich implementiert, ausgestattet mit einem ebenfalls gesetzlich verankerten Betroffenen-Beirat. Erste Schritte zur Aufklärung und Prävention seien getan, aber der Weg hin zum umfassenden Schutz der 13 Millionen Kinder und Jugendlichen in Deutschland sei noch sehr weit. Nur wenige der 200 000 Einrichtungen, die mit Kindern und Jugendlichen zu tun haben, hätten analysiert, wo sie es womöglich Tätern leicht machen. Viele glaubten immer noch, dass bei ihnen „so was“ nicht vorkommen kann und es deshalb überflüssig sei, über Prävention nachzudenken.

Auch in den Kommunen und Ländern liegt vieles im Argen. Seit Jahren ist bekannt, dass es mehr Beratungsstellen braucht, besonders auf dem Land und vor allem für Männer und Migranten. „Da hat sich nichts getan“, bilanzierte Rörig. Die Kommunen seien nicht bereit, dafür mehr Geld auszugeben. Und die Länder weigern sich, in den 2011 verabredeten Hilfefonds für die Opfer familiärer Gewalt einzuzahlen. Dieser sollte mit 100 Millionen Euro ausgestattet werden; der Bund hat 50 Millionen eingezahlt. Nur Mecklenburg-Vorpommern wird sich wohl in Kürze beteiligen. Claudia Keller

Zur Startseite