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Vereint gegen den Terror? Die Staats- und Regierungschefs und Gäste des G20-Gipfels am 15.11.2015 im türkischen Antalya.

© dpa

Die Anschläge von Paris und ihre Folgen: Lassen wir uns nicht ablenken

Der neue Terror hat die Geopolitik nicht einschneidend verändert. Die Euro-Rettung und die Ukraine sind auf lange Sicht die wichtigeren Themen. Ein Kommentar

Ein Kommentar von Christoph von Marschall

Ein einschneidendes Ereignis rückt die Prioritäten zurecht. Wenn man selbst, der Ehepartner oder ein Kind ernsthaft erkrankt, wird vieles, was uns eben noch bewegte, zweitrangig: die Vorfreude auf ein Freizeitvergnügen ebenso wie der Ärger über eine als ungerecht empfundene Situation in Job oder Familie.

Es gibt auch die umgekehrte Erfahrung: In den Arbeitsfluss platzt eine Ablenkung, die einen Pawlow’schen Reflex in uns auslöst. Ob Ärger oder Freude oder auch nur die Versuchung der Ablenkung, er hält uns davon ab, die Aufgaben, auf die wir uns eben noch konzentrierten, zu Ende zu bringen. Hinterher wundern wir uns: Wie konnten wir zulassen, dass ein – im Rückblick wohl doch nicht erstrangiges – Ereignis uns dermaßen ablenkt?

Vor dieser Entscheidung steht nun die Bundesregierung: Betrachtet sie die Gewalt in Paris, Brüssel, Syrien und Mali als einen Einschnitt, der die Prioritäten verändert? Oder als Vorfälle von nachrangiger Bedeutung? Praktisch angewandt auf die Außenpolitik: Ist die Bekämpfung des IS in Syrien und ein Bündnis mit Putins Russland und Erdogans Türkei jetzt von so überragendem Interesse, dass andere Interessen zurückstehen müssen? Oder lösen die Ereignisse lediglich Pawlow’sche Reflexe bei denen aus, die schon lange für ein Ende der Russlandsanktionen eintraten und die Türkei unabhängig von ihrer demokratischen Entwicklung in die EU integrieren wollen?

Der Westen sollte rational agieren - trotz allem

Vielleicht ist es zu viel verlangt angesichts des Horrors in Paris, der Morde in einem Ausländerhotel in Mali und der Terrorgefahr in Brüssel eine kühle, rationale Reaktion zu fordern. Womöglich wirkt das auf manche kalt und herzlos. Viele Opfer sind noch nicht identifiziert, geschweige denn begraben und betrauert worden.

Andererseits sind zwei Risiken offenkundig. Die Beschäftigung mit dem IS lenkt von Aufgaben ab, die eben noch als prioritär galten, wie die Rettungsstrategie für Griechenland und das Abkommen von Minsk. Was wird, wenn man in fünf Jahren auf 2015 zurückblickt, folgenreicher sein: der Erfolg oder Misserfolg bei der Rettung des Euro und der Befriedung der Ukraine sowie die Frage, ob Großbritannien in der EU bleibt – oder der Umgang mit dem IS? Im Übrigen blieben die Bilder vom trauten Gespräch Obama-Putin bisher folgenlos. Russland stimmt seine Luftangriffe nicht ab. Und Erdogan bleibt der Kampf gegen die Kurden wichtiger als der gegen den IS.

Zweitens wirken manche Reaktionen emotional und lassen die Erfahrungen mit der Terrorabwehr in den anderthalb Jahrzehnten seit 9/11 außer Acht. Rational ist schwer zu erklären, warum die Regierung Hollande jetzt einer militärischen Eskalation in Syrien und Mali das Wort redet und meint, westliche Kampftruppen am Boden seien ein geeignetes Mittel zur Befriedung. Als die USA so im Irak vorgingen, hat Frankreich das als Fehler betrachtet. Auch die Einsätze in Afghanistan hat es als überzogen kritisiert. Warum soll Falsches plötzlich richtig sein, nur weil Frankreich Opfer des jüngsten Terrorangriffs war?

Wieder einmal zeigt sich: Der Resonanzboden politischer Willensbildung ist die eigene Nation, nicht der gemeinsame Kontinent Europa oder gar „der Westen“. Es ist erstaunlich, wie oft jetzt unwidersprochen behauptet wird, mit den Anschlägen in Paris habe nun auch Europa sein 9/11 erlebt. Das hat es längst: in Madrid 2004, in London 2005. Hatten Franzosen und Deutsche etwa die Illusion, sie seien nicht gemeint? Islamische Terroristen haben durch Worte und Taten gezeigt, dass sie keinen Unterschied machen. Sie attackieren alle im Westen und deren Lebensart. Deutschland hatte schlicht Glück, dass Anschläge misslangen, in Zügen in Köln 2006, am Bonner Hauptbahnhof 2012.

Frankreich sollte nicht überreagieren wie die USA nach 9/11

Die Anschläge in Paris haben die Geopolitik nicht einschneidend verändert. Sie erhöhen den Druck, geopolitische Fakten zu berücksichtigen. Dazu zählt die Einsicht, wie wenig wir beeinflussen können. Es ist gefährliche Kraftmeierei, den Eindruck zu erwecken, als könne der Westen mit Militäreinsätzen Länder wie Syrien, Mali, Libyen, Somalia oder den Jemen befrieden. Es ist nicht minder illusionäre Kraftmeierei, so zu tun, als sei das allein mit besserer Diplomatie und besserer Aufbauhilfe zu erreichen, ohne Militär.

Die Kämpfe dort sind Selbstfindungskriege der Gesellschaften. Soll ihre Zukunft säkular oder islamisch sein? Wo gewinnen Sunnis, wo Schiiten die Oberhand? Wo setzen die regionalen Großmächte Iran und Saudi Arabien ihre Machtansprüche gegeneinander durch?

Um den Westen geht es nur indirekt, als ideologischen Pappkameraden, um ökonomische Interessen, die aber oft überbewertet werden, und als Opfer von Kollateralschäden. Zum widersprüchlichen Gesamtbild gehört auch: Manche Anschläge dienen der Profilierung konkurrierender Terrorgruppen. Hat der IS erfolgreich gebombt, will Al Quaida sich ebenfalls profilieren, um nicht an Zulauf zu verlieren. Oder in Mali die Terrormiliz Ansar Dine.

Muss Frankreich in seinem Schmerz ähnlich überreagieren wie die USA nach 9/11? Dann wird die Kanzlerin François Hollande davon kaum abbringen, muss ihm aber sagen: ohne uns. Ja zur Ausbildungshilfe für Malis Militär, nein zu deutschen Kampftruppen. Ausbauen sollte Deutschland die Kooperation zur Terrorprävention durch Informationsaustausch der Polizei und Geheimdienste sowie gezielte Luftschläge gegen Drahtzieher des Terrors.

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