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Politik: Die bündnisgrüne Partei sucht nach einer Vision, aber der Aufbruch liegt fern

Kommt endlich der große Aufbruch? Gut ein Jahr sind die Bündnisgrünen Regierungspartei im Bund, die Kleinarbeit wird von Tag zu Tag zermürbender.

Von Matthias Meisner

Kommt endlich der große Aufbruch? Gut ein Jahr sind die Bündnisgrünen Regierungspartei im Bund, die Kleinarbeit wird von Tag zu Tag zermürbender. Jetzt will die Partei mit einem Grundsatzprogramm- und Strategiekongress über den Tag hinausdenken. Beantwortet werden soll die Frage: Was ist der Kern des grünen Projekts?

Doch ob die Bundespartei bei ihrer Tagung vom 19. bis 21. November in Kassel tatsächlich die Grundwerte der Grünen neu definieren kann, bezweifeln selbst die Funktionäre. Nach monatelangem Hick-Hack in der rot-grünen Koalition macht sich an der grünen Basis Ermüdung breit: Die Debatte, die am Schluss in einem neuen Grundsatzprogramm der Grünen münden soll, kommt nur zögerlich in Gang.

Ganz bewusst weist die Partei ihren drei Bundesministern eine zentrale Rolle auf dem Kongress zu: Gesundheitsministerin Andrea Fischer soll in ihrem Hauptreferat nicht über die Tücken der Gesundheitsreform sprechen, sondern über die Frage: "Was ist heute soziale Gerechtigkeit?" Umweltminister Jürgen Trittin kann das zermürbende Gezerre um den Atom-Ausstieg umschiffen, und Kurs nehmen auf eine "ökologische Grundsatzorientierung". Außenminister Joschka Fischer soll nicht über über die deutsche Außenpolitik referieren, sondern ausdrücklich über "Grundlinien bündnisgrüner Außenpolitik". Erwartet wird, dass die Minister über die engen Grenzen ihres Ressorts hinausdenken.

Gerade Fischers Rolle macht den grünen Akteuren in Fraktion und Partei zunehmend Sorge. Der Außenminister ist der mit Abstand populärste grüne Politiker, überragt in seinen Beliebtheitswerten Bundeskanzler Gerhard Schröder und Oppositionsführer Wolfgang Schäuble. Doch den Grünen nutzt das nach gängiger Einschätzung überhaupt nicht. Spitzenleute sehen eine "riesige Differenz" zwischen Fischers "Traumwerten" in Umfragen und dem Ansehen der Partei, das durch interne Querelen, aber auch den Streit mit dem Koalitionspartner angeschlagen ist.

Immer häufiger wird unter Grünen deshalb eine Frage diskutiert, die schon bei der Regierungsbildung vor einem Jahr eine Rolle spielte: Hätte Fischer als der grüne Vormann schlechthin nicht besser Chef eines zentralen Ministeriums für Umwelt und Infrastruktur werden sollen? Musste er nach dem Außenamt greifen, das dem Vizekanzler klassisch zugewiesen ist?

Öffentlich sprach vor wenigen Wochen der Leipziger Bundestagsabgeordnete Werner Schulz dieses Thema an, zur Unzeit, wie viele seiner Parteifreunde meinen. Denn eine Antwort auf die Frage, wie dieses Strukturproblem zu korrigieren ist, gibt es naturgemäß nicht mehr - die Ämter in der Bundesregierung sind verteilt. Allenfalls kann eine Lösung darin liegen, Fischer stärker in die Parteiarbeit einzubinden.

Dass Fischer sich ziert, ist bekannt. Wie sich überhaupt die drei Bundesminister länger bitten ließen, dem Strategiekongress der Partei Glanz zu verleihen. Ob ein Signal aus der Mensa einer Gesamthochschule in Nordhessen kommen kann, eingebettet zwischen Foren wie "Wissen und nicht wissen als neue soziale Frage" oder "Erschütterung der Arbeitsgesellschaft - Auswege oder lauter Sackgassen"? Einen festen Teilnehmerkreis hat die Tagung in Kassel nicht. Die Resonanz der Basis auf die Einladung aus Berlin ist bisher gering: Nach der Serie von Niederlagen bei den Landtagswahlen meldeten sich erst rund 100 Leute bis Mitte dieser Woche an, gehofft hat die Partei ursprünglich auf bis zu 500 Teilnehmer.

Das grüne Drama mit vielen Schauspielern, wenig Dramaturgen und einem verunsicherten Publikum beenden: das ist aus Sicht der Parteiführung überfällig. Dass ein Kongress das nicht leisten, sondern bestenfalls einen Anstoß geben kann, ist allen klar. Mit hohen Risiken: Längerfristige Perspektiven haben die Partei schon einmal an den Rand des Abgrunds gebracht - Stichwort: fünf Mark pro Liter Sprit. Inzwischen formulieren Führungsleute vorsichtig. Einer sagt: "Ich bin nicht unoptimistisch, dass wir eine Chance haben, den Stimmungsumschwung hinzukriegen."

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