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Politik: „Die Deutschen können stolz sein“

Zentralratspräsidentin Knobloch über Patriotismus, Schuld – und Brücken zwischen Juden und Nichtjuden

ÜBERLEBENDE

Charlotte Knobloch erlebte als Sechsjährige, wie in München die Synagogen brannten und ihr Vater und ihre Großmutter von den Nazis verhaftet wurden. Sie selbst überlebte, weil eine christliche Familie sie als ihr eigenes Kind ausgab.

KÄMPFERIN

Seit 21 Jahren leitet sie die jüdische Gemeinde München. Hartnäckig kämpfte sie für den Neubau des Gemeindezentrums am Jakobsplatz.

VERSÖHNERIN

Sie kann gut zuhören und Vertrauen schaffen. Sie kann Brücken bauen, zwischen russischen Einwanderern und Alteingesessenen, zwischen Juden und Nichtjuden.

Was bedeutet die Wahl zur Zentralratspräsidentin für Sie persönlich? Ist das die Krönung Ihres Lebenswerkes?

Natürlich habe ich mich sehr gefreut. Aber eine Krönung wird es erst dann sein, wenn ich das erreicht habe, was ich mir vorgenommen habe. Wenn ich Impulse geben kann, wenn wir gemeinsam als Team etwas erreichen. Meine Vorgänger hatten das Gefühl nicht, etwas bewirkt zu haben. Ich kenne die Vor- und Nachteile dieses Amtes. Ich mache mir keine Sorgen wegen der Mehrarbeit. Ich mache mir keine Sorgen wegen vermehrter verbaler Angriffe, schriftlich oder telefonisch – das kenne ich schon. Probleme mit den Sicherheitsauflagen habe ich auch nicht. Die bin ich ebenfalls schon gewöhnt.

Nun sind Sie ja die erste Frau in diesem Amt …

Das hat auch Frau Merkel betont, als sie mir gratuliert hat.

Was bedeutet das für den Zentralrat und für das orthodox geprägte deutsche Judentum, dass plötzlich eine Frau an der Spitze steht? In der Synagoge werden Sie ja weiterhin oben auf der Frauengalerie sitzen.

Das Thema hat mich beschäftigt, als ich 1985 zur Präsidentin der Münchner Gemeinde gewählt wurde. Das waren noch ganz andere Zeiten, die Orthodoxie war sehr dominant. Als ich damals gefragt wurde, ob ich den Vorsitz in der jüdischen Gemeinde übernehmen will, war meine erste Antwort: Und was sagen die Rabbiner dazu? Daraufhin wurden sie gefragt, und sie hatten überhaupt kein Problem damit. Das hätte ich im Leben nicht geglaubt. In der Schweiz wehren sich die Rabbiner heute noch dagegen, dass eine Frau einer Gemeinde vorsteht. Damals bin ich als erste Frau Vorsitzende einer orthodoxen Gemeinde geworden – mit dem Erfolg, dass es heute sehr viele Frauen in der gleichen Position gibt. Jetzt war das für mich kein Thema mehr.

Wollen Sie sich künftig für Frauen einsetzen, um sie in den Gemeinden nach vorne zu bringen?

Ich habe nichts dagegen, Frauen zu unterstützen, wenn sie die Anforderungen erbringen, die an sie gestellt werden. Man muss in erster Linie die Leistung sehen, nicht das Geschlecht.

Sie haben angekündigt, dass Sie den Begriff Patriotismus neu definieren und besetzen wollen. Sind Sie Patriotin?

Von mir kann man nicht verlangen, dass ich Patriotin bin. Ich sehe in Deutschland meine Heimat. Aber ich bin kein Patriot. Ich kann ja die Vergangenheit leider nicht aus meinem Leben streichen. Ich habe viele Menschen verloren, an denen ich sehr gehangen habe. Aber ich bin jemand, der dieses Land, in dem ich lebe und in dem ich sehr viel Positives erfahre, Heimat nennen darf. Ich habe ja früher – im übertragenen Sinne – auf gepackten Koffern gesessen: Der Wunsch, Deutschland zu verlassen, war bei mir noch in den 50er Jahren ganz stark.

Aber warum wollen Sie dann jetzt eine Debatte über Patriotismus?

Manchmal fragen mich meine Zuwanderer – und ich sage bewusst „meine“ –, warum die Deutschen ihr Land nicht lieben. Mir ist es sehr wichtig, darauf eine Antwort zu geben und zu erklären, dass das nicht so ist. Dass sie zwar ihr Land lieben, aber manchmal vor allem die Probleme sehen. Ich verlange ja gar nicht von den Neubürgern, dass sie schnell ein Patriotismusgefühl entwickeln. Ich verlange aber von den Alteingesessenen, dass sie sich zu ihrem Land mit Freude bekennen. Und das tun sie nicht. Wenn man nach Amerika geht oder nach Frankreich, dann sieht man, dass die Menschen dort für ihr Land einstehen. Warum sollen die Deutschen nicht stolz auf ihr Land sein?

Sind Sie das auch?

Ich habe selbst erlebt, wie die Menschen dieses Land mit ihren Händen aufgebaut haben. Darauf kann jeder stolz sein. Aus einem solchen Inferno, aus einer solchen Katastrophe, aus einer so mörderischen Gesellschaft wieder etwas aufzubauen – natürlich mit Hilfe aus Amerika, was manche vergessen –, das haben die Deutschen geschafft. Und daran sollten sich die Nachkommen intensiv erinnern.

Wie wollen Sie den Begriff Patriotismus besetzen?

Wir müssen alles dafür tun, den jungen Leuten nicht das Gefühl zu geben, sie seien schuldig an der Vergangenheit. Denn dann können sie ja auch keine Patrioten sein. Das sollten sie aber sein – und zwar hundertprozentig. Das Interesse am Judentum ist enorm, aber wenn wir Führungen durch die Synagoge machen, kommen immer wieder Fragen zum Thema Schuld. Diese Schuldgefühle gibt es immer noch, und dadurch kommt es auch zu einer Abwehrreaktion, nach dem Motto: Lasst uns doch endlich in Ruhe, wir wollen davon nichts mehr wissen. Da muss von unserer Seite einiges geschehen. Aber auch die Politik muss dieses Thema sehr schnell aufnehmen.

Wann war für Sie der Punkt erreicht, Ihre Koffer wieder auszupacken?

Ich habe hier in München seit 1988 versucht, für die Juden eine andere Heimstatt zu finden als unser jetziges Gemeindehaus, das viel zu klein ist. Ich habe jahrelang gekämpft und auch Niederlagen einstecken müssen, um ein neues jüdisches Zentrum zu errichten. Inzwischen haben sich unsere Wünsche erfüllt. Als vor drei Jahren der Grundstein gelegt wurde, habe ich gesagt: Jetzt ist Schluss, jetzt haben wir ein Zuhause, jetzt sind wir da. Und wir sind im Herzen der Stadt, man will uns hier haben.

Warum heißt es heute immer noch Zentralrat der Juden in Deutschland und nicht Zentralrat der deutschen Juden?

Paul Spiegel hat das sehr richtig begründet: 80 Prozent der Mitglieder der jüdischen Gemeinden sind ja überhaupt noch keine Deutschen. Aber sie wollen die deutsche Staatsbürgerschaft. Wenn sich die Situation im Laufe der Zeit ändert, wäre ich dafür, den Zentralrat umzubenennen.

Wie ist das Verhältnis von Juden und Nichtjuden heute?

Mein großer Wunsch für die Zukunft ist, dass aus dem Nebeneinander ein Miteinander wird. Wir leben noch sehr vorsichtig mit der nichtjüdischen Bevölkerung und sie mit uns. Das Verhältnis ist auf beiden Seiten von Ängsten belastet. Ich habe früher sogar von einer Mauer gesprochen. Das würde ich heute nicht mehr so sagen. Einiges hat sich geändert. Meine Vorgänger Bubis und Spiegel haben eine Brücke gebaut und beschritten. Aber wir sind noch nicht oben angekommen, und die Nichtjuden auch nicht.

Was muss getan werden, um aus dem Nebeneinander ein Miteinander zu machen?

Wir Juden müssen stärker an die Öffentlichkeit gehen und selbstbewusster sein. Vor allem dürfen wir keine ghettoähnliche Situation entstehen lassen. Wir müssen den Dialog suchen und auch unbequeme Fragen beantworten. Ich wurde schon mehrmals gefragt, ob es stimmt, dass Juden keine Steuern zahlen. Was da für Klischees zum Vorschein kommen, das ist so absurd. Wir müssen den Leuten verständlich machen, dass uns nur die Religion unterscheidet, sonst gar nichts.

Gibt es Tendenzen, dass sich die jüdische Gemeinschaft in eine ghettoähnliche Situation zurückzieht?

Als wir uns hier Anfang der 50er Jahre niedergelassen und die Kinder großgezogen haben, haben wir nur unter uns gelebt. Vielleicht nicht im Beruf, aber in der Familie, im Freundeskreis. Das haben wir dann auch auf unsere Kinder übertragen. Als sie in die öffentlichen Schulen gingen, hatten sie keine nichtjüdischen Freunde. Das ist heute zumindest in den meisten Großstädten anders.

Sie haben die Iranpolitik der Bundesregierung kritisiert und von Appeasement gesprochen. Wie sollte die Bundesregierung, wie sollte Europa mit dem iranischen Präsidenten Ahmadinedschad umgehen?

Genauso, wie sie mit dem weißrussischen Präsidenten umgegangen sind. Er hat Einreiseverbot in alle europäischen Länder. Warum sollte jemand, der ein Verbrechen begangen hat, das unter Strafe steht – und Holocaust-Leugnung ist bei uns ein Straftatbestand –, warum sollte gerade derjenige anders behandelt werden?

Angela Merkel hat sich in ihrer Rede vor dem American Jewish Committee ganz klar hinter Israel gestellt und betont, Deutschland werde es nicht hinnehmen, wenn Iran das Existenzrecht Israels in Frage stellt. Wie weit sollte die Solidarität gehen? Ist Deutschland moralisch in der Pflicht, schlimmstenfalls militärisch einzugreifen?

Einem Militäreinsatz wird der Bundestag wahrscheinlich nicht zustimmen. Außerdem ist Deutschland der größte Wirtschaftspartner des Iran. Das spielt natürlich auch eine Rolle. Deutschland sollte sich aber aufgrund seiner Vergangenheit nicht nur mit diesen Dingen befassen, sondern den Präsidenten ganz klar und öffentlich in die Schranken weisen. Das habe ich vermisst, und genau das nenne ich Appeasement.

Heißt das, mit Ahmadinedschad sollte man nicht verhandeln?

Den Druck hat er offenbar schon zur Kenntnis genommen. Aber er ist keine kompromissbereite Person, er ist ein Fanatiker. Mit Fanatikern kann man nicht verhandeln.

Der Zentralratspräsident gilt in Deutschland als moralische Instanz. Wollen Sie das sein, müssen Sie das sein?

In jüdischen Angelegenheiten sicher. In anderen Angelegenheiten muss das nicht unbedingt sein, das strebe ich jedenfalls nicht an. Das haben auch Bubis und Spiegel nicht angestrebt.

Aber müsste sich der Zentralrat, die Vertretung einer Religionsgemeinschaft mit starken ethischen Grundsätzen, nicht aktiver in die gesellschaftliche Diskussion einmischen, zum Beispiel wenn es um soziale Fragen geht oder um die Bioethik? Für die Kirchen ist das längst selbstverständlich.

Das ist so ein Punkt, an dem man sehen kann, dass es noch kein Miteinander gibt. Wenn wir in der Vergangenheit zu solchen Themen Stellung genommen haben, wurde das an den Stammtischen oft sehr negativ aufgenommen, als jüdische Lobbyarbeit. Ich würde mich aber jederzeit einmischen, wenn es notwendig wäre.

Sie haben der Bundesregierung Nachholbedarf beim Kampf gegen Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus bescheinigt. Wo sehen Sie Versäumnisse der Politik?

Es geht nicht an, dass die Behörden Neonazi-Demonstrationen verbieten wollen und dann von den Gerichten gebremst werden, weil die Gesetzeslage dem nicht entspricht. Dieses Land hat das nicht verdient. Es ist kein neonazistisches Land. Entweder die Gesetze sind da und werden nicht angewendet – ich bin keine Juristin –, oder es müssen neue Gesetze geschaffen werden.

Für Sie ist die Bedrohung durch Rechtsextremismus vor drei Jahren sehr konkret geworden, als Attentatspläne gegen die Grundsteinlegung des jüdischen Zentrums aufgedeckt wurden. Das war nicht nur für die jüdische Gemeinschaft ein großer Schock …

… und das ist es noch.

Was hat sich dadurch für Sie verändert?

Zu der Grundsteinlegung hatte ich etwa 1000 Menschen eingeladen. Sie wären in großer Gefahr gewesen. Ich war so froh, dass die Behörden das vorher aufdecken konnten. Es ist Gott sei Dank gut gegangen. Am 9. November planen wir die Eröffnung der Hauptsynagoge, die Teil des neuen Zentrums ist, und ich mache mir schon Gedanken, wer das möglicherweise stören möchte, um es mal so zu sagen. Die Verantwortung für die Menschen, die am 9. November dort sein werden, lastet schwer auf mir.

Ist Angst für Sie ein ständiger Begleiter?

Nicht Angst um mich persönlich, aber um meine Gemeindemitglieder. Bei öffentlichen Veranstaltungen denke ich oft: Ich bin froh, wenn das vorbei ist und nichts passiert. Das kommt automatisch, dagegen kann ich nicht ankämpfen.

Das Gespräch führten Claudia Keller und Claudia von Salzen.

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