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Politik: „Die Deutschen sind nicht dick, aber hysterisch“

Der Ernährungswissenschaftler Udo Pollmer kritisiert die Kampagne der Bundesregierung

Zwei Drittel der deutschen Männer und 53 Prozent der Frauen sind zu dick - sagt die Bundesregierung zur Begründung ihrer Kampagne. Stimmen Sie mit dieser Prämisse überein?

Hier wird mit falschen Zahlen gearbeitet, das ist ein einziger Medien-Hype. Und die vorgeschlagenen Maßnahmen wurden bereits x-mal ausprobiert – ohne nennenswerten Erfolg. Ja, nicht selten wurden die Teilnehmer davon noch dicker.

Sind die Deutschen etwa nicht dicker als der Rest der Welt?

Sie sind nicht dicker, aber hysterischer im Umgang mit normalen biologischen Fragestellungen als der Rest der Welt.

Aber es gilt doch zumindest als wissenschaftlich gesichert, dass wir im Durchschnitt immer dicker werden?

Die Medienberichte sind dramatisch, die Realität ist es nicht. Es gibt immer Verschiebungen, ganz klar, denn wenn Menschen älter werden, wie es die Deutschen im Durchschnitt tun, nimmt auch der Fettanteil im Körper zu. Aber nach der Studienlage haben Dicke nun mal eine höhere Lebenserwartung als die Normalgewichtigen. Das Normalgewicht ist eine Erfindung, um Diäten zu verkaufen.

Die Grenze des Normalen, auf die sich die Bundesregierung bezieht, ist offenbar der sogenannte Body-Mass-Index von 25...

. . .eine der blödesten Maßzahlen seit Entdeckung der Dummheit, früher hat man aus dem Schädelumfang auf die Intelligenz geschlossen. Da es ärztliche beziehungsweise Pharmaorganisationen sind, die die Grenzwerte festlegen, können sie damit die Anzahl ihrer Patienten regulieren. In der Realität gibt es schlanke Menschen mit hohem Fettanteil und Korpulente mit wenig Fett, es gibt Menschen, die von Natur aus zierlich sind und andere, die eher dem Typ des Kraftsportlers entsprechen. Nehmen sie Schwarzenegger oder Clooney, nach BMI total übergewichtig. Die sollten mal Sport machen.

Demnach gibt es überhaupt keine Dicken?

Doch, aber nicht allein vom Essen. Seit hundert Jahren versuchen Mediziner, Menschen zu mästen, früher, weil dick als gesund galt – ohne Erfolg. Heute ist die Richtung umgekehrt - ohne Erfolg. Wir kennen etwa hundert Gründe, weshalb Menschen ein anderes Gewicht entwickeln, als es für sie typisch wäre.Menschen, die wirklich massives Übergewicht haben, die brauchen keinen Diätplan, sondern eine Diagnose. Denn oft stecken dahinter hormonelle Störungen, und es gibt leider auch ein paar Viren und Bazillen, die massive Fettsucht auslösen können. Nur haben viele Ärzte davon noch nie etwas gehört.

Ist es denn schlecht, wenn zumindest die Kinder unter dem Druck der Bundesregierung statt Zucker und Fett mehr Obst und Salat zu sich nehmen?

Es wird den Gastroenterologen neue Kundschaft bringen. So wie nach Beginn der Kampagne mit dem Obst und Gemüse, das man fünf Mal am Tag essen soll. Bei Kindern kommt es dadurch allenfalls zu Essstörungen. Wenn man so etwas empfiehlt, muss man vorher zeigen, dass das wirksam sind. Das haben wir von keiner dieser Maßnahmen zeigen können. Umgekehrt wissen wir zum Beispiel, dass Menschen mit so genannter gesunder Ernährung schlechtere Zähne haben, einerseits wegen der Fruchtsäuren, andererseits, weil sie sich oft auch noch sofort nach dem Essen die Zähne putzen und so die Remineralisierung behindern.

Ein zentrales Motiv der Kampagne ist mehr Bewegung – das kann doch nicht schaden, oder?

Wer sporteln mag, kann es gerne tun. Aber er wird davon meistenteils nicht dünn. Es wäre für unsere Gesundheitspolitiker besser, sie würden mal ein gutes Fachbuch zum Thema Übergewicht lesen, statt um den Block zu joggen.

Das Gespräch führte Bernd Matthies.

Udo Pollmer ist Leiter des Europäischen Instituts für Lebensmittel- und Ernährungswissenschaften in Gemmingen. Sein aktuelles Buch: „Esst endlich normal! Ein Antidiätbuch“.

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