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Politik: Die Eidgenossen rücken an die EU heran, doch das Tempo ist beschaulich - auch bei der Öffnung ihrer Märkte

Franco ist ein vorsichtiger Fahrer. Er achtet auf den Verkehr und fährt langsamer als die Polizei erlaubt.

Franco ist ein vorsichtiger Fahrer. Er achtet auf den Verkehr und fährt langsamer als die Polizei erlaubt. Franco ist aus Bern. Von den Menschen aus der Schweizer Hauptstadt heißt es, sie seien betulicher als alle anderen. Aber der Schein trügt. Zumindest in Francos Fall. Er fährt zwar wie ein Schweizer und spricht wie ein Berner, er stammt aber aus Italien. Ein Immigrant der ersten Generation, als Gastarbeiter Ende der fünfziger Jahre in das wohlhabende Alpenland gezogen. Doch das ist lange her. So lange, dass Franco wohl gegen das Wirtschaftsabkommen zwischen der Schweiz und der EU gestimmt hätte, wenn er zur Wahl gegangen wäre. Die Eidgenossen nahmen am Sonntag dennoch die Vereinbarung an. Das erleichtert den Waren- und Menschenverkehr - und Investitionen von EU-Mitgliedern.

"Die Swiss-Com hat jetzt 2000 Leute entlassen", sagt Franco. Und Europa habe Deutschland doch auch nichts gebracht. Überhaupt, am Euro seien ja die Folgen des gemeinsamen Marktes deutlich zu erkennen. Eine schwache Währung und immer mehr Menschen ohne Arbeit. Als ich vorsichtig einwende, dass die Kaufkraft nicht zurückgegangen ist, sondern im Gegenteil viele Produkte des täglichen Bedarfs billiger würden, dass außerdem die Inflation im Euro-Raum gering sei, da wendet sich das Blatt. Ja, sagt Franco, in der Schweiz sei alles sehr teuer. Und die Löhne stiegen auch nicht. Wenn jetzt noch zusätzliche Arbeitskräfte aus anderen Ländern kämen, dann werde der Lebensstandard noch weiter sinken. Früher, Anfang der Sechziger, da sei das alles viel besser gewesen.

Franco ist Fahrer. Er fährt Taxen und "Limousinen". Heute ist er im Auftrag des Fondsinitiators "HST" unterwegs. Die Aktiengesellschaft aus Bremen legt Beteiligungsmodelle auf: Sie sammelt Kapital bei privaten Anlegern und finanziert damit zum Beispiel Schiffe oder Immobilien. Die Geldgeber bekommen dafür Steuervorteile sowie Renditen. Nachdem die HST mehrere Immobilienfonds in Holland aufgelegt hat, versucht sie sich nun an ihrer ersten Investition in der Schweiz (siehe dazu Fondskritik auf dieser Seite). Und da die Gesellschaft die dafür erforderlichen Millionen in Deutschland einsammelt, verfrachtete sie Journalisten aus der Republik zu einem Wochenendseminar in die Hauptstadt der Schweiz.

"Die Schweiz ist ein sicherer Standort, wir machen keine Revolutionen, und es geht alles etwas langsamer als andernorts", sagt Jessica Herschkowitz. Der Dame von der Berner Wirtschaftsförderung sitzt der Schalk im Nacken. So und mit viel Charme verkauft sie ihren Standort auch. Die Fakten vergisst sie dabei nicht. Zwar seien die Löhne in der Schweiz höher als in Deutschland. Da die Nebenkosten aber um die Hälfte geringer seien als nördlich des Rheins - die Staatsquote betrage in der Schweiz 25 Prozent - sei dieser Nachteil aufgewogen. Im übrigen biete die Schweiz Unternehmen "Investitionskostenbeiträge".

Bis zu 500 000 Schweizer Franken sind es. Die Zuschüsse zahle der Kanton in Form von Subventionen zu den Mietkosten, von Prämien für die Schaffung von Arbeitsplätzen oder von Unkostenbeiträge zum Erwerb von Maschinen. Besonders belohnt werden Investoren in der "Förderregion". Ähnlich wie die neuen Bundesländer in Deutschland hat auch die Schweiz strukturschwächere Gebiete. Eines davon ist der Berner Jura zum Beispiel. Dort fließt der Verkehr nicht ganz so reibungslos, denn die Straßen sind enger. Und die Bahnen fahren dort weniger oft, Flughäfen fehlen. Die Qualifikation der Menschen sei aber auch dort ausgezeichnet, wirbt Jessica Herschkowitz.

Qualifizierte Arbeitskräfte und der gute Ruf des Produktionsstandortes hätten das Label "Made in Swizzerland" zu einem werbewirksamen Gütezeichen gemacht. Für den guten Ruf des schweizer Handwerks stünden die Uhrenindustrie (Omega, Rolex, Swatch), Möbelsysteme (USM), Werkzeugmaschinen, Mikrotechnik und Metallindustrie. Expandieren würden natürlich auch die Bereiche Telekommunikation und Information (Ascom, 3Com) sowie die Software-Produktion (Ixos). Die Aktiengesellschaft SAP hatte bis vor einigen Jahren sogar ihren Europasitz in Bern, heute ist dort noch die Schweizer Zentrale ansässig.

Wie tief technische Innovation und Handwerk in der Tradition verwurzelt sind, das findet seinen sichtbaren Ausdruck im Wahrzeichen der Stadt. Der "Zeitglockenturm" aus dem 16. Jahrhundert lässt Stunde um Stunde einen bunten Reigen mechanisch angetriebener Figuren zur Freude der Touristen tanzen: angeleitet von einem Flügel schlagenden, schreienden Hahn, beginnt ein Bärenumzug, während ein Narr zwei Glocken schlägt, worauf der antike Gott Chronos die Sanduhr dreht - dann setzt ein weiterer Hahnenschrei dem Schauspiel ein Ende, zumindest für die Dauer einer Stunde.

Die Erfolgsbilanz des Wirtschaftsstandortes Bern ist natürlich nicht lückenlos. So prüfte ein Call-Center vor einigen Jahren eine Ansiedlung in der Region, ließ dann aber von seinem Vorhaben ab. Die Ursache? "Vielleicht haben die Unternehmer befürchtet, nicht genügend Arbeitskräfte zu bekommen", sagt Jessica Herschkowitz. Die Erwerbslosenquote betrage drei Prozent. "Und das ist für unsere Verhältnisse schon relativ viel", sagt die Beraterin. Die lange Zeit stark regulierten Arbeits- und Niederlassungsrechte hätten zu diesen, aus deutscher Arbeitnehmersicht paradiesischen Zuständen beigetragen. Hindernisse beim Verkehr von Waren und Arbeitskräften werden allerdings mit dem am vergangenen Sonntag angenommenenen Wirtschaftsabkommen zwischen der Schweiz und der EU wegfallen. Ist das auch der erste Schritt zu einem Beitritt der Eidgenossen zur Union?

Darüber gehen die Meinungen auseinander. Das Schweizer Magazin "Facts" schreibt in einer Mai-Ausgabe: "Nur gerade 36 Parlamentarier (von 200) fordern Beitrittsverhandlungen schon im Jahr 2000". Nur wage und ohne konkrete Frist sei der EU-Beitritt als außenpolitisches Ziel festgeschrieben. Zwar liege der Schweizer Beitrittsersuch dem Parlament von Brüssel vor. Doch der Bundesrat der Eidgenossen habe es bis auf weiteres "eingefroren" wie die offizielle Sprachregelung lautet. Hinterlegt hatten die Eidgenossen es rechtzeitig vor dem 6. Dezember 1992, doch an diesem Tag lehnte die Mehrheit der Schweizer bei der - in allen wichtigen Entscheidungen üblichen - Volksbefragung den Beitritt ab.

Für die Handelsbeziehungen mit den Mitgliedsländer der EU kommt jedoch das Wirtschaftsabkommen mit der EU einem Beitritt gleich. So wertet es zumindest der Rechtsanwalt und Steuerexperte David Ryser von der Zürcher Kanzlei Tax Partner. Mit den Verträgen nähmen die Schweizer so gut wie alle Normen der EU an. Lediglich im Umweltschutz und bei den Sozialgesetzen gingen sie eigene Wege. Schärfere Richtlinien behielten sie zur Erhaltung der Natur, beim Arbeitsrecht dagegen seien sie liberaler als sonst im Euro-Raum. Letzteres ist für den Rechtsanwalt wie für die Wirtschaftsberaterin eine der Ursache für die stabile Konjunktur in der Schweiz. Zum "unternehmerfreundlichen Klima" trage ein gut austariertes Konsensmodell zwischen den Tarifparteien bei. Arbeitskämpfe gebe es nur selten. Dass keine Gewerkschaften existierten, sei dagegen nur ein Gerücht.

"Auch mit dem Fiskus kann man reden", sagt Ryser. Man muss es wohl auch, denn Informationsaustausch gehört offensichtlich zum "Schweizer Modell": Das Berner Steuerrecht zeichnet mit einem Umfang von nur 150 Seiten lediglich einen rechtlichen Rahmen. Hinzu kämen zwar noch einmal Verordnungen und Verwaltungspraktiken. Wichtiger aber sei das Gespräch zwischen Steuerpflichtigen und Fiskus: "Man arbeitet zusammen für eine Lösung, die sich im Rahmen des Gesetzes bewegt." Zwar sei der Ermessensspielraum der Beteiligten groß, wer jedoch die Lücken ausnutze, um die Steuerlast zu minimieren, habe mit Sanktionen zu rechnen. Der vernünftige und auch übliche Weg sei es, vor "großen Transaktionen verbindliche Vorabklärungen" mit dem Fiskus zu treffen. Deshalb sei auch die Zahl der Gerichtsfälle klein. Das klingt ein wenig wie die Verwirklichung eines Konsenses nach der "Diskurstheorie" von Jürgen Habermas. Skeptiker halten es eher mit dem Vor-Urteil, wonach "jeder jeden kennt und überall Vetternwirtschaft" herrscht. Nicht zuletzt deshalb habe er sich der Unterstützung von Schweizer Partnern bei der Konstruktion des Immobilienfonds Swiss 1 versichert, so HST-Vorstand Bernhard Köhler.

Das Verbot eines Erwerbs von Wohnanlagen in der Schweiz dagegen rührt das jüngste Wirtschaftsabkommen ebensowenig an wie die Lockerung der "Lex Friedrich" im Jahr 1997. Zwar dürfen im Land tätige und sesshafte Ausländer selbst genutztes Wohneigentum erwerben, das gilt aber nicht für Wohnhäuser zu investiven Zwecken. Nicht betroffen vom Verbot sind Gewerbeimmobilien. So hätten der Schweizer Hof in Bern sowie einige andere Hotels der Fünf-Sterne-Kategorie bereits die Eigentümer gewechselt. "Die Banken geben ihre Portfolios ab, weil jetzt Investoren auf den Markt kommen", sagt Steuerexperte Ryser. Das Beispiel werde Schule machen, und auch im Zuge der Umstrukturierung der Bahn sowie der Swiss-Telecom würden weitere Gewerbeobjekte auf den Markt kommen.

Franko will sich keine Eigentumswohnung kaufen. Er zählt zur großen Mehrheit der Schweizer: Sie sind Mieter. Seit über 30 Jahren lebt er in einer Drei-Zimmer-Wohnung. 750 Schweizer Franken zahlt er. Inzwischen sind seine Söhne in eigene vier Wände umgezogen. Der eine arbeitet als Innenarchitekt, der andere als Installateur. "Das ist gut", sagt Franco, Installateure würden immer gebraucht. Nur das mit den offenen Grenzen, nein, das könne er gar nicht verstehen - sagt der Immigrant.

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